Der Schavan-Kodex, oder: Inzucht und Opferung in römischer Arena

Einen „Kodex zum wissensgerechten Umgang mit Plagiatsvorwürfen“ wünschte sich Annette Schavan im Januar 2013, als die Möglichkeit einer Aberkennung ihres Doktorgrades bedrohlich näherrückte. [1] Nun ist er erschienen: Der aktuelle Band von „Kodex – Jahrbuch der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft“ zum Thema „Das Plagiat“.

Schon das Vorwort der Herausgeber, der Münchener Buchwissenschaftlerin Christine Haug und ihres St. Gallener Kollegen Vincent Kaufmann, erweist sich als im Umgang mit Plagiatsvorwürfen vollkommen schavansgerecht. Doch es handelt sich nicht nur um eine nachdrückliche Ehrenerklärung der Wissenschaft für die gewesene Wissenschaftsministerin, sondern auch um ein aufrüttelndes Manifest zur Selbstbesinnung der Geisteswissenschaften: Im Spektakel des Plagiatsgetöses haben sie sich billig verkauft, das Feld „den Medien, Journalisten und Technokraten überlassen“, haben sich gar „zur Geisel nehmen“ lassen. Zu einer „öffentlichen Einforderung der Kompetenz im Umgang mit Texten“ durch die Philologien, die eigentlichen Vertreter der Textwissenschaft, sei es dagegen nicht gekommen. Diese Einforderung wird nun von Haug und Kaufmann nachgeholt, unter ganz persönlicher Mitwirkung von Annette Schavan.

Von differenten Diskursen, von allerlei Allianzen und von verantwortlichen Philologien

Haug und Kaufmann machen in ihrem gerade mal zwei Seiten langen Vorwort derart reichlichen und überzeugenden Gebrauch von der Gelegenheit, als Textwissenschaftler Kompetenz im Umgang mit Texten zu zeigen, dass der Medien-, Journalisten- und Technokratenpöbel fürderhin gewiss in Ehrfurcht stumm verharren und scheu beiseite blicken wird, wenn wieder mal von Geistigem die Rede ist. Mit Sätzen wie diesem etwa:

Gerade das Übergreifen von konzeptionellen Debatten in scheinbar „außerliterarische“ Sphären macht das Plagiat zu einem gesellschaftsübergreifenden Thema, das […] uns alle über den grundsätzlichen Stellenwert von geistigem Eigentum und geistiger Aneignung nachzudenken und miteinander ins Gespräch kommen lässt.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VII

Gerade bei näherem Nachzudenken wird uns jeglicher grundsätzliche Stellenwert ebenso einzuleuchten wie die Sache mit der Allianz: Im Gespräch der Wissenschaftler mit Studenten über das Plagiatsspektakel nämlich

entfalteten sich vielschichtige und differente Diskurse und Machtfelder, die eine unselige Allianz eingehen.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VIII

Ja, die Diskurse! Sie sind überall, und sie gehen gerne auch schon mal eine unselige Allianz mit dem einen oder anderen Machtfeld ein, wenn die Konditionen denn stimmen. Die Wissenschaft lässt ihnen leider freies Spiel:

Gerade im Kontext der internetbasierten Plagiatsjagd der letzten Jahre, die in der Aberkennung des Doktortitels von Annette Schavan gipfelte, drängte sich Frage nach der Verantwortung der Philologien auf,
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VIII

stellen Haug und Kaufmann selbstkritisch fest und geben damit zugleich ein weiteres schönes Beispiel für das segensreiche Walten ihrer philologischen Verantwortung.

Das Versagen der Philologien, den verbündeten Diskursen und Machtfeldern mit kraftvoller Entschlossenheit entgegenzutreten, hat gravierende Folgen. Jene Unberufenen, denen im Kontext der internetbasierten Plagiatsjagd der letzten Jahre das Feld überlassen wurde, kamen mit ihren verfehlten Methoden zwangsläufig zu falschen Resultaten:

Das Aufspüren von Plagiaten über spezielle Softwareprogramme, das nach rein quantitativen Kriterien erfolgt, führt nicht zu belastbaren Ergebnissen. Die bloße Ermittlung von Wort- und Formulierungsähnlichkeiten in Texten suggeriert zwar, dass Plagiate objektivierbar seien; ein derartiges Vorgehen stellt aber schwerlich ein philologisch seriöses Instrumentarium für die Identifikation von Plagiaten dar, und dies schon gar nicht, wenn diese Verfahren auf Texte aus den 1970er oder 1980er Jahren Anwendung finden.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VIII

Und so konnte die Plagiatsjagd bei Annette Schavan gipfeln. Kein Wunder, wenn man die Sache nicht den einzig kompetenten Textwissenschaftlern überlässt. Solchen zum Beispiel, die äußerst klare Vorstellungen vom „Aufspüren von Plagiaten“ haben und denen es dabei in ihrer philologischen Seriosität herzlich gleichgültig ist, ob ein „Vorgehen“ überhaupt jemals ein „Instrumentarium“ sein kann.

Frau Opfer, die Fachkollegin

Und nun kommt es in diesem Vorwort zu einer schönen Ankündigung. Die unselige Allianz der Diskurse mit den Machtfeldern

warf die Frage auf, ob das Plagiat ein Symptom für die Krise in den Geistes- und Sozialwissenschaften, in unserer gegenwärtigen Wissenschaftskultur sei. Diese Frage wollten die Herausgeber […] mit einer Fachkollegin diskutieren, die einerseits als ehemalige Bundesministerin für Bildung und Forschung das Hochschulsystem und den Wissenschaftsbetrieb in Deutschland kennt, andererseits selbst das Opfer dieser unzulässigen Vermischung von Diskursen und Machtfeldern, die eine scheinbare Sicherheit vermittelt, was denn ein Plagiat sei, geworden ist.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VIII

Das umstandslos zur buch- und textwissenschaftlichen Fachkollegin geadelte Vermischungsopfer mochte sich dem Gesprächswunsch der Herausgeber nicht verschließen. Das Gespräch mit Annette Schavan fand just an jenem Tage statt, an dessen Abend die gewesene Ministerin dem Thronwechsel bei der Max-Planck-Gesellschaft durch ihre Gegenwart besonderen Glanz verlieh. Der Internationalen Buchwissenschaftlichen Gesellschaft, deren Mitglieder für den Bezug des Kodex-Jahrbuchs ordentliche Beiträge bezahlen, gebührt für den Abdruck des Gesprächs unser besonderer Dank. Und sicherlich wird der Wunsch der Herausgeber erfüllt werden, es möge damit „eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Plagiats“ gefördert und eine Debatte angeregt werden, in der es um bedeutende Fragen zu gehen hat. Fragen wie diese:

Warum lassen sich die Geisteswissenschaften zur Geisel nehmen und provozieren damit die Gefahr, dass das Vorurteil, so gehe es in den Geisteswissenschaften zu, manifest wird? Warum kam es zu keinem Aufschrei der Geisteswissenschaftler und zu einer öffentlichen Einforderung der Kompetenz im Umgang mit Texten? Und sicherlich noch wichtiger: Welche Wege lassen sich aufzeigen, um die Geistes- und Sozialwissenschaften aus dieser Situation wieder herauszuführen?
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. VIII

Denn leider sind inzwischen offenbar auch die Sozialwissenschaften irgendwie mit hineingeraten in diese Geiselnahme, durch die die Gefahr provoziert wird, dass das Vorurteil manifest wird, dass es in den Geisteswissenschaften so zugeht.

Exkurs über die Menschwerdung der Texte

Gewiss brauchen wir Buch- und Textwissenschaftler, um das Wesen der Bücher und Texte auch nur annähernd erfassen zu können. Das wird uns recht deutlich bei der Lektüre eines Zeitungsbeitrags von Vincent Kaufmann, der uns enthüllt, dass Bücher eine Seele haben. „Normale Bücher“ jedenfalls, also nicht etwa Enzyklopädien oder Schmutz-und Schundliteratur, und schon gar nicht E-Books:

Dass normale Bücher eine Seele haben, ist nachvollziehbar. Jedes Mal, wenn die Existenz der Bücher bedroht wird, wenn zum Beispiel eine Buchhandlung verschwindet oder wenn man sich mit der Perspektive, dass es bald nur noch durch Amazon vertriebene E-Books geben wird, auseinandersetzen muss, steigt der Konsum der Antidepressiva. Diese Korrelation ist bis jetzt den Buchwissenschaft[l]ern entgangen. [2]

Es sind aber wohl nicht die bedrohten Bücher, die vermehrt Antidepressiva schlucken und sich somit als arme Seelen erweisen. Vielmehr ergibt sich die Tatsache ihrer Beseeltheit daraus, dass uns ihr Schicksal auf die Seele fällt: „Wenn es den Büchern schlecht geht, sind wir traurig“, weiß Kaufmann. Nun liegt uns zwar auch das Wohlergehen unseres Bankkontos recht sehr am Herzen, doch mit solchen Profanitäten gibt sich Kaufmann nicht ab. Seine Beweisführung in Sachen Bücherseelen kulminiert im unwiderleglichen Zeugnis der Märtyrer:

Man verbrennt Bücher und Menschen ein wenig auf die gleiche Weise oder aus den gleichen Gründen. Ergo sind Bücher menschlich, beseelt. [2]

Und so geht es weiter – ein heillos irrlichterndes Geschwafel, das alles und nichts zusammenbringt und dabei ein ältliches Missbehagen an der penetranten Gegenwart ausdünstet. Nebenher wird auch recht Spezielles zur menschlichen Spezies mitgeteilt:

Seelen haben nicht viel mit Kommunikation zu tun, jedoch sehr viel mit Übermittlung, und Bücher stehen wie kein anderes Medium für Übermittlung. Deshalb sind wir eben von den Seelen der Verstorbenen umgeben, was übrigens dazu führt, dass die Menschen die einzige Spezies sind, bei denen es mehr gestorbene als lebendige Individuen gibt. [2]

In all der Wirrnis wird man es bedauern, dass Kaufmann aus unerfindlichen Gründen zwar Büchern, nicht aber Texten eine Seele zuspricht. Zumindest normale Texte hätten doch vielleicht auch recht gern eine Seele. Und im Sinne ihrer weitergehenden Menschwerdung würden wir den Texten unbedingt auch noch Hand und Fuß wünschen. Und Beine. Zum In-die-Hand-Nehmen, wenn der Textwissenschaftler kommt.

Im Gespräch mit Annette Schavan: Was ein Plagiat ist

Es ist eine aparte Idee der Herausgeber des „Kodex“, den Band über „Das Plagiat“ durch ein Gespräch mit der Plagiatorin Annette Schavan zu eröffnen. „Das Plagiat als Symptom einer vermeintlichen Sicherheit“ soll angeblich der Gegenstand des Gesprächs sein, und wenn man Worte als die Träger von Bedeutung ernst nähme, könnte man hier bereits misslaunig werden. Aber nach der Lektüre des Vorworts ist man abgehärtet und nimmt einfach hin, dass tatsächlich wohl eher „Der Plagiatsvorwurf als Suggestion einer Gewissheit“ gemeint ist.

Das Opfer des Symptoms darf dieses Gespräch eröffnen. Schavan:

Wählen wir doch eingangs eine kurze Frage, die zugleich ins Zentrum führt: Was ist ein Plagiat?
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 1

Um es gleich zu sagen: Wir werden es nie erfahren. Denn das Plagiat ist allenfalls multidisziplinär zu bereden, die Auseinandersetzung mit ihm „erfordert sorgfältige Differenzierungen“, es wirken „viele unterschiedliche Diskurse“ auf den Begriff ein, auch solche wohl, die unselige Allianzen mit differenten Machtfeldern eingegangen sind. Und – Verwaltungsgerichte: Aufgemerkt! – Vincent Kaufmann weiß, dass das „Plagiat […] keine juristisch erkennbare Tatsache“ ist. Christine Haug erzählt unterdessen von der Erfindung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert, die überhaupt erst „historischer Ausgangspunkt des Plagiats“ gewesen sei. Denn in Zeiten der Handschrift sei ja alles Abgeschriebene ein Unikat gewesen. Und so ist in dieser Geschichte alles permanent ungeheuer im Fluss. Die Autoren der französischen Klassik im 17. Jahrhundert etwa, erklärt uns Vincent Kaufmann, hatten einen ganz anderen Begriff vom Plagiat, woraus unmittelbar erhellt,

dass die wissenschaftliche Kultur historisch und institutionell bedingt ist und deshalb ein Plagiat im Jahr 2013 nicht in der gleichen Weise identifiziert wird wie im Jahr 1980, um hier einen direkten Bezug auf den Plagiatsvorwurf gegenüber Annette Schavan zu nehmen.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 1-2

Inzwischen hat Haug noch einmal um eine Klärung des Begriffs „Plagiat“ gerungen und kann nun mit folgendem eindrucksvollen Resultat aufwarten:

Die Frage, was ein Plagiat ist, könnte darüber beantwortet werden, was es definitiv nicht ist, nämlich objektivierbar und justiziabel.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 2

Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass Annette Schavan mit dieser Antwort auf ihre Eingangsfrage, die zugleich ins Zentrum führte, vollauf zufrieden ist.

Neues aus der Welt des Rechtswesens

Auch die weiteren Mitteilungen der Buchwissenschaftlerin Haug aus der Welt des Rechtswesens sind sehr zufriedenstellend:

Ein sauber arbeitender Jurist operiert nicht mit dem Begriff „Plagiat“, sondern prüft lediglich, ob a) eine Persönlichkeitsverletzung vorliegt oder b) jemandem ein wirtschaftlicher Schaden entstanden ist.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 2

Und:

Ein Verwaltungsgericht entscheidet allein über den formal korrekten Ablauf des Prüfungsverfahrens, nicht darüber, ob es sich um ein Plagiat handelt. Geht uns denn über die Medien zusehends die Differenziertheit verloren, die man doch wenigstens den Textwissenschaftlern abverlangen müsste?
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 4

Wahrhaftig, wenigstens einer Textwissenschaftlerin müsste man abverlangen, dass sie mehr zustande bringt als ein unkritisches Wiederkäuen dessen, was die Medien behauptet haben. Und Schavan, dieses Muster an Lauterkeit, fühlt sich keineswegs aufgerufen, der Unbedarftheit ihrer Gesprächspartnerin an dieser Stelle entgegenzusetzen, was sie aus der Kenntnis des eigenen Falles genauestens wissen muss: Dass für die Aberkennung des Doktorgrades die Frage einer Persönlichkeitsverletzung oder eines wirtschaftlichen Schadens überhaupt nicht in Betracht kommt, und dass Verwaltungsgerichte die Entscheidungen der Universitäten sehr wohl auch in materieller Hinsicht überprüfen, weshalb auch das Verwaltungsgericht Düsseldorf sämtliche von der Universität geltend gemachten Plagiatsbefunde einzeln geprüft und bewertet hat. [3]

Auch Kaufmann, der „die prominente Rolle von Juristen in dieser Debatte […] bislang so nicht wahrgenommen“ hatte, findet nun:

Doch in der Tat, sowohl Juristen als auch Softwareprogramme versuchen beide das Plagiat objektivierbar zu machen, was es jedoch nicht ist. Diesbezügliche juristische Behauptungen beziehungsweise Feststellungen und die Medien, hier insbesondere die digitalen Medien, sind offensichtlich Machtdemonstrationen.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 3

Und wenn sich die Softwareprogramme und die Juristen dann auch noch der unseligen Allianz der differenten Diskurse und der vielschichtigen Machtfelder anschließen, dann sind Geiselnahmen in den Geisteswissenschaften fast unausweichlich. Darüber berichten dann die Machtdemonstrationen.

L’avant-garde d’avant-hier

Gleich zu Beginn des Gesprächs schlägt Haug einen recht kurzen und dennoch kühnen historischen Bogen:

Während im 20. Jahrhundert Avantgarden zum Plagiieren aufgerufen und das Plagiat zu einem wichtigen Element kreativer Aktivität erklärt haben, förderten die digitalen Medien eine negative Konnotation des Begriffs. In diesem Kontext wurde Plagiieren schließlich kriminalisiert.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 1

Letzteres ist natürlich Blödsinn. Doch der Verweis auf avantgardistische Positionen, wie sie in den 1950er und 60er Jahren entwickelt wurden, ist aufschlussreich. Ohnehin beschleicht uns bei der Lektüre dieses Gesprächsprotokolls mitunter das Gefühl, einer situationistischen Aktion beizuwohnen. Und es hätte den bizarren Lesegenuss sicher noch beträchtlich erhöhen können, wenn etwa Vincent Kaufmann, dieser Hüter der reinen Lehre der Situationistischen Internationale und Guy-Debord-Hagiograph unter Approbation der Witwe Alice Becker-Ho, der eher wenig avantgardistischen Schavan zur Rechtfertigung ihrer uninspirierten Fledderei fremder Lesefrüchte das Konzept des détournement nahegebracht hätte – der legitimen, da kreativen Aneignung dessen, was minderbemittelte Spießer „fremdes geistiges Eigentum“ nennen:

Tout peut servir. Il va de soi que l’on peut non seulement corriger une oeuvre ou intégrer divers fragments d’oeuvres périmées dans une nouvelle, mais encore changer le sens de ces fragments et truquer de toutes les manières que l’on jugera bonnes ce que les imbéciles s’obstinent à nommer des citations.
Guy Debord & Gil J. Wolman, Mode d’emploi du détournement (1956)

Der Avantgarde des Jahres 1956 oder 1968 ist es so ergangen wie allem, was einmal neu und aufregend gewesen ist, bis es von seinen Adepten und Ideologen konserviert werden musste: Sie riecht allmählich heftig nach Mottenkugeln. Die Melancholie von einst scheint bei Kaufmann einem resignativen Kulturpessimismus, ja einem Ressentiment gegen die schnöde Gegenwart gewichen zu sein. Und er baut sich einen derart erstaunlichen Popanz aus dem, was er für gegenwärtig hält, dass man sich ratlos fragt, wo der Mann denn eigentlich lebt. „Software“, „digital“, das scheinen Schreckensworte zu sein, wie sie sich die biederen Mönchlein in den Skriptorien entlegener Alpenklöster zugerufen haben: „Holzschnitt“, „Blockbuch“, „Schwarze Kunst“!

Das „Internet“ dieser Buchwissenschaftler ist ein Ort der Vulgaritäten, ihre „Software“ eine unheimliche Macht. Beständig wiederholen sie das seltsame Mantra von der

Plagiatssoftware, die eine rein quantitative Erhebung von ähnlichen Formulierungen und identischen Wörtern vornimmt [und so] zu der Annahme führt, Plagiat sei objektivierbar.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 2

Das Opfer kann dies nur bestätigen. Doch während Schavan in diesem Gespräch erkennbar nur die eigene Ehrenrettung im Sinn hat, geht es Kaufmann um die Ordnung der Dinge, den allgemeinen Niedergang der Verhältnisse in dieser Welt:

Wenn sich in dieser Debatte nicht die eigentlichen Spezialisten und Fachkollegen durchsetzen, offenbart sich eine neue Verteilung von Autoritäten innerhalb dieser Auseinandersetzung. Den Medien wird eine Macht zugesprochen, wonach diese beispielsweise eine Politikerin oder einen Politiker zum Rücktritt zwingen können.  Analog hierzu ist vielleicht die Annahme, die neuen Technologien könnten – wie am Beispiel des „Arabischen Frühling“ auszuführen wäre – sogar Revolutionen auslösen. Computerfreaks agieren auf der Basis neuer Technologien gegen mutmaßliche Plagiatoren und übernehmen den vorformulierten Konsens, ein Plagiat sei objektivierbar. Wären Plagiate aber das Thema von Philologen, von ausgewiesenen Textwissenschaftlern, hätten Juristen, Medien oder bloße Softwarenutzer dazu nichts zu sagen. Hier findet – durch die Technologie gesteuert – eine neue Verteilung von Autoritäten statt; das kann man sehr gut beobachten.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 3

Das mag sehr wirr und sprunghaft sein, aber es eröffnet immerhin ein wahrhaft weites Feld von Bezügen. Und gerne, wirklich gerne würde man der Technologie bei der Steuerung so entscheidender Vorgänge zusehen. Kaufmann raunt, dies könne man sehr gut beobachten. Aber irgendwie näher beschreiben lässt es sich offenbar nicht.

Allzusehr muss sich die Technologie mit der neuen Verteilung von Autoritäten aber vielleicht auch gar nicht abmühen. Denn wenig später äußert Kaufmann:

Die klassischen Geistes- und Sozialwissenschaften glauben nicht mehr an sich selbst und ziehen deshalb die Autorität der Medien vor.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 4

Und dann gibt er Auskünfte darüber, wie es zugeht in diesen Wissenschaften. Schaurig genug, auch ohne Geiselnahme – vor allem, da wir nun auch noch auf die „Digital Humanities“ zu sprechen kommen müssen:

In den letzten Jahren war eine ganze Reihe von Paradigmenwechseln zu beobachten, die dazu geführt haben, dass die traditionelle Hermeneutik – einst unser Kerngeschäft – in verschiedenen Disziplinen an Stellenwert verloren hat. Zugespitzt könnte man sagen, dass der seriöse Philologe keine Texte mehr liest, sondern an Softwareprogrammen bastelt, die es ihm ermöglichen, über sämtliche Jahrhunderte hinweg innerhalb von Sekunden Texte auf Ähnlichkeiten oder andere Phänomene zu untersuchen, also mit Verfahren und Standards der Informatik quantitative Textanalysen durchzuführen. Wenn solche Verfahren in unseren Disziplinen zentral werden, liegt die „digitale“ Objektivierung von Plagiaten natürlich auf der Hand.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 5

Mit der durch ein Subjekt verantworteten Hermeneutik hat niemand mehr etwas im Sinn:

Im Zentrum des wissenschaftlichen Handwerks steht heute die computergestützte Identifizierung und Zuordnung von immer mehr Quellen eines Werkes,
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 5

will Kaufmann uns weismachen. Eine solche technik- und softwarebasierte Arbeitsweise hat dann nachgerade zwangsläufig auch die um sich greifende Plagiatsidiotie zur Folge. Niemand aber versucht sich noch an Interpretationen von Goethe oder Proust. Diese Klage ist Kaufmann so wichtig, dass er sie später im Gespräch nochmals anstimmt:

Ohne Subjekt gibt es keine Hermeneutik und ohne Hermeneutik keine Geisteswissenschaft. Es gibt keine Software, die Goethe oder Proust interpretieren kann, und solange es diese nicht gibt, geht es nicht ohne Subjektivität. Das offenbart aber auch das Problem der gegenwärtigen Wissenschaftskultur: Einzig relevant in der wissenschaftlichen Arbeit sind nur noch die Formulierungen, nicht mehr das Denken, aber Software kann eben nicht denken. Es ist doch ein merkwürdiges, ja befremdliches Statement über den Status der Geisteswissenschaften, wenn es nicht mehr um das Denken des Subjekts geht, wenn dieses vollkommen unerheblich geworden ist.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 7

So mancher Gralshüter einer Avantgarde von vorgestern malt eben nur noch seine Schimären an die Wand, um sodann bänglich von der Apokalypse zu künden.

Zahlen zählen

Alles ist von Software gesteuert, alles wird nur noch quantitativ vermessen. Niemand denkt mehr. Alle starren nur noch auf die automatisch generierten Ergebnisreihen. Wieder und wieder muss deshalb gesagt werden, dass Plagiate nicht objektivierbar sind. Meistens ist es Vincent Kaufmann, der dies sagt. Aber was, wenn Plagiate doch irgendwie positiv bestimmbar wären? Dann

würde sich doch die Frage stellen, wie viel Übereinstimmung es denn bedarf, um von einem Plagiat zu sprechen. Genügen bereits 35 Prozent Textüberschneidung oder braucht es 50 Prozent und mehr? Ab wann gilt beispielsweise eine Dissertation als Plagiat und darf als solche nicht anerkannt werden? Es gibt keine Leitlinien, die die Ergebnisse der quantitativen Messbarkeit von Textüberschneidungen zum Plagiat erklären.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 2

Es ist etwas Seltsames um diese Obsession mit der angeblich allein entscheidenden Plagiatssoftware und der quantitativen Messbarkeit von Textüberschneidungen. Schon eine flüchtige Bemühung um Information müsste den Buch- und Textwissenschaftlern gezeigt haben, dass Software bei der „internetbasierten Plagiatsjagd […], die in der Aberkennung des Doktortitels von Annette Schavan gipfelte“, eine sehr eingeschränkte und in keiner Weise entscheidende Rolle gespielt hat. Bei schavanplag wurden die Dissertation und die teilweise digitalisierte Sekundärliteratur

manuell sowie mithilfe einer Open-Source-Software […] abgeglichen […]. Gefundene Übereinstimmungen wurden hierbei einzeln überprüft und, sofern die entsprechenden Passagen nicht oder nicht ausreichend referenziert werden, dokumentiert. Eine automatisierte Einstufung von Übereinstimmungen als Plagiat durch Software, wie sie andere praktizieren mögen, fand in keinem einzigen Fall statt. [4]

Anhand der kommentierten Synopse von Fundstellen lässt sich diese Aussage sehr leicht nachvollziehen. Eine „quantitative Messbarkeit“ aber hat den Urheber von schavanplag nicht interessiert: An keiner Stelle nennt er Ergebnisse quantitativer Messungen. Prozentzahlen etwa, die den Anteil befallener Stellen, Seiten, Zeilen oder Zeichen am Gesamtumfang der Arbeit benennen würden, wird man hier vergeblich suchen. Die Beurteilung durch schavanplag ist vielmehr an qualitativen Kriterien orientiert.

Gleiches gilt für die Überprüfung dieser Doktorarbeit durch die Düsseldorfer Fakultät. Berichterstatter Stefan Rohrbacher

verglich Papier mit Papier, Schavans Dissertation mit vielen anderen Büchern; Satz für Satz, Wort für Wort, Fußnote für Fußnote. „Technische Hilfsmittel wie ‚Plagiatssoftware‘ oder andere Werkzeuge für einen automatisierten Textvergleich wurden nicht eingesetzt“, heißt es in dem Gutachten. „Die Überprüfung wurde ausschließlich auf der Grundlage der Originaltexte in Autopsie vorgenommen.“ [5]

Das in dieser Gesprächsrunde ständig beschworene Verhängnis einer vollautomatischen Durchforstung durch eine Plagiatssoftware, die nicht denken kann und durch den Ausstoß von Zahlenwerten lediglich „Objektivierbarkeit“ suggeriert, hat es nicht gegeben. Annette Schavan, die das natürlich genau weiß, behauptet dennoch aus eigener leidvoller Erfahrung bestätigen zu können:

Des Plagiats ist man überführt, wenn eine spezielle Software eine nicht näher bestimmte Anzahl von ähnlichen oder identischen Wörtern in der fraglichen Untersuchung aufweist.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 2

Einem solchen Unheil, einer derartigen Ungerechtigkeit ist dann auch die reinste Unschuld schutz- und wehrlos preisgegeben.

Diskursschwankungen

Diesem Schreckensregime der anonymen, internetbasierten Plagiatssoftware haben sich die Universitäten willenlos unterworfen. Im November 2013, als noch nicht abzusehen war, wie das Verwaltungsgericht entscheiden würde, äußerte Vincent Kaufmann:

Wenn irgend jemand kommen kann und sagen kann: „Das ist ein Plagiat, diese Dissertation ist ein Plagiat“, und wenn man dann dreißig Jahre, nachdem jemand promoviert hat, dieser Person den Doktortitel wegnimmt, stellt sich die Frage, wer das macht? Und woher kommt die Legitimität für einen solchen Entscheid? Und wenn man sich so anschaut, was da jetzt in Deutschland läuft oder gelaufen ist, ist man da an den Universitäten zum Teil auf sehr, sehr, sehr dünnem Eis. Und mich verwundert es ein wenig, dass im Fall Annette Schavan zum Beispiel die Universität Düsseldorf so schnell eingelenkt hat und dass es genügt, dass ein Professor, fachfremd, ein Judaist, einen Bericht abgibt, und damit verliert, oder sollte Annette Schavan ihren Doktortitel verlieren. Das ist schon mal etwas Merkwürdiges, dass eigentlich die akademischen Institutionen so schnell nachgeben. [6]

Ansonsten war der Universität allgemein ein ungebührlich langwieriges Verfahren vorgehalten worden. Doch wenn man Kaufmann folgte, hatte es ein solches Verfahren gar nicht gegeben: Irgendjemand war gekommen, daraufhin hatte ein einziger Professor, fachfremd noch dazu, sich mit der Sache befasst, und schon war die Universität eingeknickt und das Opfer hatte seinen Doktorgrad verloren.

„Fachfremd“ hieß damals allerdings noch: Kein Erziehungswissenschaftler. Wieder und wieder war vorgebracht worden, dass Rohrbacher als Judaist eine erziehungswissenschaftliche Dissertation unmöglich beurteilen konnte. So diente sich der Aachener Sprachwissenschaftler Christian Stetter im Mai 2013 der früheren Ministerin mit folgender Erkenntnis an:

Die Judaistik ist – schon aus naheliegenden philologischen Gründen – ein [der Erziehungswissenschaft] geradezu entgegengesetztes Fach: Hier wird aufgrund der begrenzten Quellenlage eine in meinen Augen geradezu hypertrophe Philologie getrieben. [7]

Doch inzwischen bedeutet „fachfremd“ offenbar: Kein Philologe, denn nur den Philologien als „den eigentlichen Vertretern von Textwissenschaft“ hätte es zugestanden, eine erziehungswissenschaftliche Dissertation aus dem Jahre 1980 zu überprüfen. Und so hat Rohrbacher nun doch keinerlei Philologie getrieben. Schavan, die seinerzeit stets die Einholung externer Fachgutachten verlangt und selbst unterstützende Stellungnahmen von Erziehungswissenschaftlern bei der Fakultät eingereicht hatte, sieht dies nun genauso: Es ist gar nicht zu begreifen, dass jemals andere als Textwissenschaftler mit der Überprüfung ihrer Arbeit betraut worden sind. Der kleine Positionswechsel wird ihr umso leichter fallen, als sie selbst ja qua „Kodex“-Vorwort zur „Fachkollegin“ ihrer Gesprächspartner avanciert ist.

Das Düsseldorfer Verfahren ist und bleibt ein Skandal gerade deshalb, weil die Fakultät sich dem freien Spiel der Argumente und sonstiger Kräfte konsequent verweigert hat. Schavan ist konsterniert:

Wenn ein Wissenschaftler eine Bewertung abgibt und andere Wissenschaftler diametral entgegengesetzte Bewertungen, muss darüber ein Diskurs geführt werden. Zur Wissenschaft gehört doch zutiefst der Diskurs – klassisch die Disputation – wo unterschiedliche Bewertungen eines Textes diskutiert werden. Was hat in der Geisteswissenschaft dazu geführt, etwas aufzugeben, was zu ihrer Faszination gehört, und letztendlich die Zerstörung von Texten zuzulassen?
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 4

Die Ministerin soll ihre Rechtsanwälte in Stellung gebracht haben? Die Universität zur Verschwiegenheit verpflichtet haben? Die Veröffentlichung der Unterlagen verweigert haben? Ach was. Als offene Diskussionsveranstaltung hätte die Fakultät das förmliche Verfahren zur Aberkennung des Doktorgrades inszenieren sollen. Das hätte zur Faszination der Wissenschaft zweifellos beigetragen. Angeboten hätte sich eine Veranstaltung des Wissenschaftsrates, moderiert von Heike Schmoll. [8, 9] In solch offener Runde wäre die Zerstörung eines gewissen Textes keinesfalls zugelassen worden. Stattdessen hat sich die Fakultät abgeschottet.

Christine Haug wirft die Frage auf,

warum sich einige wenige Gutachten (im Verbund mit dem fragwürdigen Ergebnis einer Plagiatssoftware) mit ihrer Meinung, es handelt sich bei einer Dissertation um ein Plagiat, durchsetzen können und fünfzig andere Gutachten, die das Gegenteil behaupten, nicht.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 5

Hier zeigt sich ein zutiefst demokratischer Wesenszug der Textwissenschaft, wie sie von Haug und Kaufmann und neuerdings auch von Fachkollegin Schavan vertreten wird: Durchsetzen sollte sich stets die Auffassung, für welche die meisten Gutachten beschafft werden konnten. Denn die quantitative Messbarkeit, sie hat mitunter doch viel für sich.

Fünfzig zu eins

Fünfzig? Das wäre allerdings eine wahrhaft stolze Zahl. Nach allem, was wir wissen, waren es wohl nicht ganz so viele Gutachten, die das Gegenteil des Rohrbacher-Berichts behaupteten. Doch werden sie ja sicher nicht nur zahlreich, sondern auch seriös und vor allem textwissenschaftlich über jeden Zweifel erhaben gewesen sein, während sich die Fakultät nur auf die untaugliche „Expertise“ eines philologiefremden Judaisten im Verbund mit dem fragwürdigen Ergebnis einer Plagiatssoftware gestützt hat.

Doch wenn wir die bekannt gewordenen Stellungnahmen, durch die Wissenschaftler verschiedener Disziplinen Schavan stützen wollten, Revue passieren lassen, finden wir nicht eine einzige, die einen textwissenschaftlich irgendwie ernstzunehmenden Ansatz vertreten hätte:

Da waren die Erziehungswissenschaftler Heinz-Elmar Tenorth, Dietrich Benner und Helmut Fend, allesamt „fachfremd“ im Sinne unserer Gesprächsrunde. Gegenüber der Fakultät haben sie in einem ihrer Papiere freimütig ihre Unfähigkeit erklärt, die im Rohrbacher-Bericht ausgebreiteten Textbefunde zu bestreiten, [7] und sich ansonsten in teilweise bizarren und durch nichts belegten Behauptungen erschöpft. Sie scheinen in Düsseldorf ebenso wenig beeindruckt zu haben wie der Theologe und Philosoph Ludger Honnefelder, ebenfalls kein Philologe, der gleichfalls auf jeden konkreten Versuch, sich mit dem Text seiner Duz-Freundin und früheren Mitarbeiterin im Cusanuswerk zu befassen, verzichtet hat und in erster Linie die Gutachten von Tenorth, Benner und Fend zur zwingenden Entscheidungsgrundlage erklären wollte. Den Rohrbacher-Bericht, den er als unhaltbar abqualifizieren wollte, kannte er nach eigener Aussage nur „den Presseberichten nach“. [10]

Wenig Wirkung dürften auch verschiedene Presseveröffentlichungen der Germanisten Wolfgang Frühwald und Gerhart von Graevenitz gehabt haben, die Schavans Opus ebenso geprüft und für unbedenklich befunden haben wollten wie der Theologe Christoph Markschies, der nach angeblich zweimaliger Lektüre allerdings meinte, es gehe da um Schulunterricht. [11, 12] Irgendeine konkrete Einlassung auf den Text war auch hier nicht zu erkennen – von philologischer Arbeit ganz zu schweigen.

Bliebe noch jenes Gutachten, mit dem Vincent Kaufmann selbst für die seriöse Textwissenschaft einstehen und zum Sieg der Gerechtigkeit beitragen wollte. Der Abschlussbericht des Düsseldorfer Dekans Bruno Bleckmann zitiert aus den Früchten dieser philologischen Kärrnerarbeit:

Der klarste Verstoß gegen das wissenschaftliche Arbeiten liegt hier im Beschluss [der Fakultät], ein fachfremdes Gutachten einzuholen, in dem abstrakt und ohne Rücksicht auf die betroffene Fachkultur in selbstgefälliger Einstimmigkeit verurteilt wird. […] Prof. Rohrbacher übernimmt hier die Rolle, die in jedem guten Kriminalroman dem sturen Kommissar zukommt, der in den betroffenen Romanen prinzipiell falsch liegt. [7]

Man fragt sich in der Tat, wie es geschehen konnte, dass eine derart fundierte textwissenschaftliche Aufarbeitung des Plagiatsverdachts von der Fakultät schnöde übergangen wurde. Vielleicht lag es ja daran, dass Vincent Kaufmann sein undatiertes Gutachten mit einer fingierten Adresse versehen hatte, um den falschen Eindruck zu erwecken, es sei bereits in der Phase der Vorprüfung abgefasst und für den Düsseldorfer Promotionsausschuss bestimmt gewesen. Tatsächlich hatte er sein Papier jedoch für Schavan bzw. ihre Rechtsanwälte geschrieben, zur gefälligen Verwendung vor dem Verwaltungsgericht. [7]

Inzucht mit Gender

Nicht weniger betroffen als Kaufmann zeigt sich angesichts des Niedergangs der akademischen Standards seine Kollegin Haug. Die Diskurse vermischen sich und gehen Allianzen mit den Medien ein, die Machtdemonstrationen sind. Und über die Medien gehen uns die Differenzierungen verloren:

In jedem Seminar würde man die Studierenden auffordern, akribisch genau zu arbeiten und differenziert zu urteilen. Zweifellos spielen die Medien eine wichtige Rolle bei der Manifestation von problematischen oder gar falschen Sachverhalten in der Öffentlichkeit.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 3

Doch wie solche Sätze deutlich machen, sind wir hier nicht im Seminar. Eine Textwissenschaft, die tatsächlich von der „Manifestation von […] falschen Sachverhalten“ spricht, ist jedenfalls der von Kaufmann so lebhaft beklagten Fehlentwicklung unverdächtig: Formulierungen sind in der wissenschaftlichen Arbeit dieser speziellen Disziplin ganz offensichtlich nur von sehr begrenzter Relevanz. Hier kommt es auf das Denken an, und diesem Denken werden keine Zügel angelegt. Es hüpft mal hier-, mal dorthin und schafft innerhalb von fünf Zeilen ganz zwanglos den Ritt von den Juristen, die als scheinbare Autorität einen Text als Plagiat verurteilen (obwohl dieselbe Christine Haug wenige Minuten später behaupten wird, dass die Verwaltungsgerichte eben dies nicht tun), über die „Lust an der medialen Demontage einer öffentlichen Person“ zur „Befriedigung primitiver voyeuristischer Bedürfnisse“.

Das freie Denken ohne lästiges Korsett ist eine feine Sache. Man kann alles mögliche mal denken und dann mal als Behauptung in die Welt setzen, oder als nicht begründungspflichtige Vermutung. Im Fall des Opfers

wäre die Diskussion über Ihre Dissertation wohl ernsthafter geführt worden, hätten Sie nicht ein so prominentes politisches Amt – gerade als Wissenschaftsministerin – bekleidet. Auch Genderfragen mögen hier eine Rolle gespielt haben.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 8

Das Opfer wird sich sowas schon gedacht haben: Genderfragen! Sie mögen eine Rolle gespielt haben bei der Verfolgung und Verurteilung trotz patentierter Unschuld. Haug fährt in ihrer Assoziationslockerungsübung fort:

In einer seriösen Auseinandersetzung über die Dissertation von Annette Schavan würde man den Ausdruck eigenen Denkens und Breite der wissenschaftlichen Bildung würdigen müssen, die Dissertationen aus den 70er Jahren […] kennzeichnen.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 8

Der Ausdruck eigenen Denkens und Breite zeigt sich an einer mächtig anspruchsvollen Themenstellung, mit der das blutjunge Opfer fraglos Schiffbruch erleiden musste. „Ein kritischer Blick“ würde aus dieser Zeit

eine Unmenge an Arbeiten dieses Formats ans Tageslicht bringen und – würden dieselben Überprüfungskriterien angelegt -, hätten wir womöglich 50 Prozent an Professorinnen und Professoren ohne Doktortitel an deutschen Hochschulen.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 8

Das Opfer, das bislang darauf beharren wollte, seine Doktorarbeit sei „30 Jahre lang als ein gutes Buch gesehen“ worden, [13] und das dieses Buch selbst „auch immer noch gut“ gefunden hatte, [14] ist es zufrieden. Immerhin die Hälfte der gesamten Professorenschaft des Landes, dessen Wissenschaftsministerin sie war, ist ebenso kläglich gescheitert und müsste, wenn es gerecht zuginge, ebenfalls den Doktorgrad verlieren.

Vielleicht lässt sich das ja noch einrichten. Die Überprüfungsverfahren müssen allerdings reformiert und vereinheitlicht werden. Bisher, weiß Schavan, sind diese Verfahren „als ein ‚Closed Job‘ inszeniert worden“, womit sie offenbar meint, dass Außenstehende keine Mitsprache haben. So war es auch in ihrem Fall, in dem die Universität „Meinungsäußerungen und Kommentare der Wissenschaftsorganisationen als unzulässige Einmischung verworfen“ hat. Haug schlägt hilfreich vor:

„Closed Job“ und eine Form von Inzucht? Jedenfalls ein Verfahren zunehmender Aggressivität.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 9

Buchwissenschaft, Abteilung für Demografie und Suchtkrankheiten

Der Inzuchtverdacht angesichts zunehmender Aggressivität kann leider nicht weiter verfolgt werden, da Haug nun rasch zu der Frage zurückkehren muss, wie die Wissenschaft „aus dieser Situation“ wieder herausgeführt werden kann. Sie befindet:

Die bloße Rückkehr in die wissenschaftliche Praxis der Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ist hier nicht zielführend, es ist mit auch ein demografisches Problem.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 9

Denn demografisch betrachtet leben die meisten Wissenschaftler heute im 21. Jahrhundert, sofern sie nicht schon sehr lange tot sind.

Jene heutigen Wissenschaftler aber, die dem Opfer am Ende eines Verfahrens zunehmender Aggressivität den Doktorgrad entzogen haben, sind wohl sehr krank. Christine Haug gelingt es im Verein mit Vincent Kaufmann, die pathologischen Hintergründe des grausen Geschehens aufzuzeigen. Nachdem Kaufmann festgestellt hat, dass „die neuen Trümpfe des guten Wissenschaftlers […] mediale Selbstinszenierungen“ sind, unterstreicht Haug, wie verführerisch mediale Sichtbarkeit ist. Medienauftritte lassen den Wissenschaftler seine eigentlichen Aufgaben vergessen, zumal sich wissenschaftliche Kleinarbeit medial kaum aufregend vermitteln lässt:

Wir reagieren nicht offensiv genug auf dieses Legitimationsproblem, neigen vielmehr zum beleidigten Rückzug und die Quelle anhaltender Frustration sucht sich Ventile.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 5

Und so, will Haug uns nahelegen, konnte es dazu kommen, dass jenes eine, einzige Gutachten des Düsseldorfer Prodekans von seiner Fakultät nicht verworfen wurde, obgleich es fünfzig andere gab, die das Gegenteil behaupteten: wegen der medialen Sichtbarkeit, nach der diese Fakultät gierte und die ihr nicht gegeben war. Aus ihrem beleidigten Rückzug, womöglich einer Form von Inzucht, begab sich die Quelle auf die Suche nach Ventilen und fand sie in zunehmender Aggressivität.

Es bleibt Vincent Kaufmann vorbehalten, die von seiner Kollegin gestellte Diagnose am Ende des Gesprächs noch einmal deutlicher auszuführen:

Die Wissenschaft fügt sich einer Öffentlichkeitskultur und wendet sich von ihrer eigentlichen Kernkompetenz ab. Eine Konsequenz scheint die Sucht nach Sichtbarkeit zu sein […]. Sichtbarkeit, die es ermöglicht, einen Politiker anzugreifen oder gar zum Rücktritt zu zwingen, ist wichtiger geworden als die Wissenschaft selbst.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 10

Wie viele Suchtdrogen verhilft also auch die Sichtbarkeit ihren akademischen Konsumenten zur Erfahrung ungeahnter Kräfte und Fähigkeiten: Sie ermöglicht es ihnen beispielsweise, einen Politiker zum Rücktritt zu zwingen. Über ihrem Drogenkonsum vernachlässigen die Suchtkranken allerdings leider die Wissenschaft. Es treibt sie ständig an öffentliche Orte, dorthin, wo ihnen Sichtbarkeit vertickt wird. Die Öffentlichkeit aber diktiert der süchtigen Wissenschaft die Preise und die Regeln:

Öffentlichkeit heute, das kommt dann noch dazu, hat nichts mehr mit einer vernunftorientierten Inszenierung zu tun, wie sie sich etwa Kant wünschte; es handelt sich vielmehr um eine römische Arena mit Opferung und blutigen Spektakeln. Wird die Wissenschaft mit einer dominanten Öffentlichkeit konfrontiert, verlieren ethische Fragen an Bedeutung.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 10

Und so ward das unschuldige Opfer hingeschlachtet.

Vorankündigung

Nach mehr als zwei Stunden harmonischer Dreisamkeit kommt die Gesprächsrunde zum Schluss. Doch es soll nicht das letzte Mal gewesen sein, dass man zusammengekommen ist, um den Zustand der  Geisteswissenschaften zu bedenken. Mit dem heutigen Austausch wurde erst ein Anfang gemacht, ein erster Anstoß gegeben, denn „ebenso drängend wie hochaktuell“ bleibt die Frage, „ob das Plagiat ein Symptom der Krise unserer Wissenschaftskultur ist“. In zwei Jahren soll deshalb ein weiteres Arbeitsgespräch folgen, kündigt Haug an:

Unverzichtbar scheint uns in diesem Zusammenhang eine vollständige wissenschaftlich seriöse Aufarbeitung des „Falls Schavan“.
Kodex. Jahrbuch der IBG 4 (2014), S. 10

Trotz all der vatikanischen Termine wird das Opfer an dieser vollständigen wissenschaftlich seriösen Aufarbeitung des „Falls Schavan“ zweifellos entscheidend mitwirken können. Eine römische Arena ist bereits angemietet. Die Philologien werden erneut ihre textwissenschaftliche Kompetenz als eigentliche Vertreter unter Beweis stellen, und es wird ungeheuer hermeneutisch zugehen. Während die Plagiatssoftware das Denken immer noch nicht gelernt haben wird, werden die vollständig seriösen Wissenschaftler erneut hohe Proben dieser Kunst abgeben und das andächtige Publikum mit der Stringenz ihrer Ausführungen in den Bann ziehen, die sie in sprachlichen Wendungen von großer Präzision und makelloser Schönheit vortragen. Die Bedeutung ethischer Fragen wird gebührende Aufmerksamkeit finden. Es wird zu keinerlei Inzucht kommen. Und weiße Tauben werden gen Himmel aufsteigen: Die Seelen der Bücher,  die ein wenig auf die gleiche Weise oder aus den gleichen Gründen gemartert wurden wie eine Ministerin.

Und dann wird wieder ein neues Buch werden, und es wird wieder „Kodex“ heißen.

absatz

12 Antworten zu “Der Schavan-Kodex, oder: Inzucht und Opferung in römischer Arena

  1. Gerhard Hindemith

    Da ist den Schavan-Apologeten aber ein schwerer Fehler unterlaufen. Anstelle die Plagiatssoftware zu verteufeln, hätten sie voll auf sie setzen sollen, denn keine marktgängige Software findet in der Schavan-Dissertation auch nur ein Plagiat (zumindest war das so bevor Schavanplag die ganzen Fundstellen ins Netz geblasen hat).

    Man hätte sagen sollen: die Software findet nichts. Punkt. Kein Plagiat. Die Plagiatsvorwürfe sind eine Verschwörung der Textwissenschaft mit ihren subjektiven Methoden, ein Nachhall der Science wars, ein letztes Aufbäumen der Textverdreher um Schavanplag und Rohrbacher, das aber letztendlich an der Objektivierbarkeit modernster Plagiatssoftware scheitern muss.

    So wäre das was geworden …

    • Vielleicht liegt der Schlüssel zur Antwort auf Ihre Frage, warum das Argument der Software-Freisprechung von der Schavan-Armee nicht systematisch geritten wurde, gerade in deren hochgradiger Technikinkompetenz?

      Schavan selbst fragte sich bekanntermaßen, was die Leute so nach 22 Uhr in die Tastatur kippen. Und dann erscheint dieser Codex auf ganz tradierte Weise rein auf Papier und entzieht sich so zugleich ebenfalls der Kontrolle einer Plagiats-Software. Darüberhinaus brüstet man sich, dass elektronische Bücher ja gar keine Bücher sein können — wegen der fehlenden Seele.

      Ich wage nicht zu hoffen, dass es sich bei diesem Rauschen im Blätterwald um eine ungelenk fabulierte Satire handelt. Wer weiß schon, was namhafte Autoren, deren Gedankengänge nach 22 Uhr in die Tastaturen gekippt und dann bei Amazon, Kobo, B&N sowie diversen anderen schändlichen Märkten elektronischer Bücher dem dummen wissenschaftlichen Fußvolk ins Hirn geschmiert wurden, sonst nach alles anstellen, wenn die heilige Allianz nicht das Schlimmste zu verhindern versuchte?

      Andererseits dürfte diese Veröffentlichung allenfalls der Befriedigung von Eitelkeiten dienen, insgesamt aber auf die Gesellschaft keinerlei maßgebliche Auswirkungen zeigen — dazu ist das Werk zu fern der Erfahrungswelt. Was aber viele Leute sofort verstehen: wenn der Doktor mit einem Meister verglichen wird, ebenso wie der Schutz des Meisterabschlusses verstehen die Leute dann auch den Schutz des Doktorgrads. Frau Schavan ist dann ein Geselle, der sich als Meister ausgibt, ohne die Prüfungen korrekt abgelegt zu haben.

      Mit dem Jahrbuch und seinen verschwurbelten Formulierungskünsten mag man vielleicht die wenigen noch verbliebenen Wortdrechsler erfreuen, aber die große Masse versteht derlei nicht. Aber ein Geselle, der Meister sein will, das verstehen die Leut.

  2. Pingback: Hat jeder zweite Professor seine Doktorarbeit plagiiert? | Erbloggtes

  3. “Man verbrennt Bücher und Menschen ein wenig auf die gleiche Weise oder aus den gleichen Gründen. Ergo sind Bücher menschlich, beseelt.” (V. Kaufmann)

    Soll das eine unter Textwissenschaftlern gültige logische Figur sein? Wie wäre es dann hiermit:

    “Käse und Zähne können ein wenig aus denselben Gründen Löcher aufweisen (Aktivität von Bakterien). Ergo bestehen Zähne aus geronnener Milch.” – qed

    Man hat ja schon achselzuckend hingenommen, dass sich die Erziehungswissenschaften (zumindest der 80er Jahre) nachträglich frei- und bereitwillig aus dem Bund der ernstzunehmenden Wissenschaften verabschiedet haben, nur um einer Einzelperson einen akademischen Grad zu retten. Hat nicht funktioniert, das Eingeständnis der Unwissenschaftlichkeit dieser Disziplin bleibt aber für die Zukunft erhalten.

    Dass sich nun aber auch noch – da doch alles schon vorüber ist und es für die Einzelperson wenig zu gewinnen, für das Fach jedoch vieles zu verlieren gibt – weitere Disziplinen verspätet einschalten und sich nicht entblöden, auch ihr eigenes Fach mit allerlei inkompetenten Äußerungen zu demontieren, finde ich ganz erstaunlich. Ob wohl die übrigen Mitglieder der Philologengemeinde so glücklich sind über diese merkwürdigen Zwecken dienende Vereinnahmung ihres Fachs?

  4. Bei allem Verständnis für pointierte Zuspitzung um der dramaturgischen Wucht willen, aber das geht eindeutig zu weit: wie kann es sein, dass hier die übrigen 47 Pro-Schavan-Gutachten einfach unangesprochen bleiben?

    • Das macht wohl unser mieser Charakter. Wir verdrehen und verfälschen und verkürzen einfach. Ist ja bekannt. Muss man nur mal Markschies fragen. Nur Schavan weiß nichts davon, weil sie keine anonymen Blogs liest.

      Bei der hemmungslos seriösen Aufarbeitung des Falls Schavan durch die vereinigte und internationale Münchener und St. Gallener Buchwissenschaft ist den glorreichen 47 aber sicher eine tragende Rolle zugedacht. Dann werden auch wir der geballten Kraft der Argumente auf höchstem Niveau nicht mehr länger ausweichen können.

      • Moment … war die pointierte Zuspitzung wirklich das Werk der Simone G. oder haben das nicht schon die fleißigen Buchwissenschaftler selbst getan? (Nicht, dass ich Simone G.s wortschmiederische Arbeit schmälern will)

  5. Bin mir nicht sicher, hatten die Buchwissenschaftler nicht unmissverständlich von 50 schavangefälligen „Gutachten“ gesprochen?

  6. „Dass normale Bücher eine Seele haben, ist nachvollziehbar. Jedes Mal, wenn die Existenz der Bücher bedroht wird, wenn zum Beispiel eine Buchhandlung verschwindet oder wenn man sich mit der Perspektive, dass es bald nur noch durch Amazon vertriebene E-Books geben wird, auseinandersetzen muss, steigt der Konsum der Antidepressiva. Diese Korrelation ist bis jetzt den Buchwissenschaft[l]ern entgangen.“ (Vincent Kaufmann)

    „Man verbrennt Bücher und Menschen ein wenig auf die gleiche Weise oder aus den gleichen Gründen. Ergo sind Bücher menschlich, beseelt.“ (Vincent Kaufmann)

    Könnte man dem zitierten, in der literaturfernen Online-Diaspora veröffentlichten und somit garantiert nicht (ver-)brennbaren (?) NZZ-Artikel von Vincent Kaufmann wohl selbst eine Seele einhauchen? Das „Zu-sich-selbst-Kommen“, wie es im Artikel heißt, wollte sich bei mir nicht einstellen, doch dazu später noch mehr. Auch nicht, als es esoterisch wurde: „Seelen haben nicht viel mit Kommunikation zu tun, jedoch sehr viel mit Übermittlung, und Bücher stehen wie kein anderes Medium für Übermittlung. Deshalb sind wir eben von den Seelen der Verstorbenen umgeben, was übrigens dazu führt, dass die Menschen die einzige Spezies sind, bei denen es mehr gestorbene als lebendige Individuen gibt. […] Die Verstorbenen sind für die Werbeeinnahmen nicht so interessante Konsumenten, sie eignen sich nicht so gut als User“ (?)

    Also, eigentlich bin ich etwas tot – nur über lebende Menschen glauben viele Leute, in ihnen wie in einem Buch lesen zu können. Ich habe daher mal meine Seele stellvertretend ins Internet geschickt. Nicht, dass ich mich als Verstorbener noch für Literaturanmaßungen im Internet interessierte – das echte Nirwana hat viel mehr zu bieten – aber auf der Suche nach möglichen Medien ist meine Seele durchaus aufgeschlossen für alle Kommunikations-, Übermittlungs- und Übertragungswege. Ich habe daher auch einfach mal das Wort „Kodex“ als Suchbegriff bei Amazon eingeben lassen. „Technokratisch“ betrachtet bietet Amazon viele Plagiate an, zumindest dem Titel nach. Sogleich dann „Antidepressiva“ in das Amazon-Suchfeld eingetippt, bekam meine Seele wirklich die volle Dröhnung angeboten, inkl. vollhomöopathischer Wunderpillen mit erstklassiger Kundenbewertung. Amazon hat aber auch „Seelenverkäufer“ im Angebot. Dass man die auch lesen kann, wusste ich nicht. Die Eingabe von „Seele“ führte nicht etwa auf seelenlos digital vervielfältigte Soulmusik, sondern als erstes auf ein Schriftwerk mit dem verheißungsvollen Titel: „Die Seele verstehen – Zugang zur Seele und den geistigen Helfern“ – genau das, was ich jetzt nach meinem Exitus brauche – nur eines von überraschend vielen weiteren seelisch (und spirituell!) vielversprechenden Werken, die allesamt keine Ebooks sind – die Antidepressiva gehörten auch nicht zur Rubrik „Wird oft zusammen gekauft“. Nur waren die „geistigen Helfer“ auch diesmal nicht Kaufmann oder Haug.

    Gerade war der digitale Warenkorb zur Totalen Wiederbeseelung beinahe gefüllt, da reinkarnierte ein anderer Gedanke in mir: Es gab einmal einen Artikel eines engen Seelenverwandten bei „Zeit online“ mit dem Titel: „Warum viele Plagiatsvorwürfe nicht haltbar sind“. Der Autor (Rafael Wawer) erklärte darin damals: „Im Allgemeinen verstehen wir aber unter Plagiat, von lateinisch plagium, so viel wie „Raub der Seele“.“ Kam die Seelensuche bei der unseligen “Plagiatsjagd“ damals gewiss noch nicht zur Anwendung – als „seriöses Instrumentarium für die Identifikation von Plagiaten“ noch völlig unbekannt, reagierte der Internetpöbel in den „außerliterarischen Sphären“ entsprechend: Die damaligen Leserkommentare waren nicht minder verheerend, nicht unseliger und unbeseelter als diejenigen zum NZZ-Artikel.

    Aber sollen die Schöngeister doch ruhig zu Wort kommen: Hätte Frau Schavan nun also „Seelen“ geraubt? Teufel aber auch – meine kriegt sie nicht! Sofern der „Kodex“ aber kodifizieren kann, was eine (Buch-)Seele eigentlich ist, muss folglich konstatiert werden, dass die beanstandeten Stellen des Schavantexts nicht anderen Autoren aus der Seele sprechen. Dann kann die Seelischsprechung (oder Seligsprechung?) im Fall Schavan gelingen. Auf den Vatikan sollte man sich in diesen Angelegenheiten besser nicht verlassen (ich kenn mich da mittlerweile aus!). Nicht, dass jemand noch weiter Gespenster sieht – ich verflüchtige mich dann mal wieder in Gebundenes! Allen hier verbleibenden Leserseelen wünsche ich noch ein heiteres neues Jahr, es fing ja gut an! Huibuh!

  7. Bei allem wohl verdienten Sarkasmus: Wäre es nicht langsam Zeit, zur Ehrenrettung ernsthafter (Geistes-) Wissenschaften den Rücktritt solcher Schwafelköpfe von ihren Professoren-Ämtern zu fordern, in denen offensichtlich nur gequirlte S*****e vor sich hin gärt? Und zwar nicht nur den der hier ausführlich zur allgemeinen Belustigung genüsslich zitierten Autoren, sondern auch jener, die sich und ihren Fächern und Organisationen als Leiter scheinbar respektabler Wissenschaftsvereinigungen und Universitäten in der Causa Schavan eine solche Blöße gegeben haben, dass „Fremdschämen“ dagegen allein nicht mehr hilft. Wie soll man als (Geistes-) Wissenschaftler gegenüber einem Steuerzahler vermitteln, dass solcher Unsinn – aus Dummheit oder wissentlich, also in betrügerischer Absicht! – unter dem Deckmäntelchen eben dieser Wissenschaften und in ihrem Namen verbreitet wird?

    Aber wir erleben ja auch in den anderen, z.B. den Wirtschafts-„Wissenschaften“ (Hallo, „Uni“ St. Gallen!) ständig, dass von keiner Logik oder Grundlegung in Fakten gebremstes, jeglicher Realität sogar widersprechendes Geschwafel durch die Medien geistert und als „wissenschaftliche“ Gutachten sogar vom Steuerzahler doppelt finanziert wird (denn die gutachtenden „Wissenschaftler“ stehen ja i.d.R. auch auf den Gehaltslisten von Universitäten u.ä.).

    Oder dass in (mindestens) jedem zweiten geisteswissenschaftlichen Aufsatz oder Buch ein „Geraune“ verbreitet wird, dass den einfachen Fragen: „Woher weiß man das?“ und: „Wie ist das zu verstehen?“ [i.S. einer neue Erkenntnisse bringenden Interpretation] nicht standzuhalten vermöchte. Aber diese Fragen werden offenbar nicht gestellt.

    Und so pflanzt sich ein „Diskurs“ an Universitäten und Forschungseinrichtungen fort und fort, der weder eine Beziehung zu belegbaren Fakten oder auch nur zu (halbwegs verstandenen) anderen / älteren Texten noch zu logischem Denken und folgerichtigen Argumentationen aufweist. Das oben zitierte und vollkommen zu Recht zerpflückte Geschwafel ist daher leider (meiner Erfahrung als Leser nach) kein statistischer Ausreißer, erklärbar aus dem, peinlichen aber nicht einmal mehr menschlich nachzuvollziehenden Bemühen, eine unmöglich gewordene (bzw. sich gemacht habende) Person zu rehabilitieren, sondern eher symptomatisch für einen Wissenschafts-„Betrieb“, der die Abkoppelung vom Wissen längst vollzogen hat und nur (?) noch – in immer schnellerem Tempo – unfruchtbare, dem sprachlichen Modegeschmack hinterher hechelnde Texte „auswirft“.

    PS: Jaja, ich weiß: Das klingt jetzt vielleicht wie das spätestens seit Aristoteles übliche ein „kulturpessimistisches“ Gejammere über den Verfall einer immer schon idealisierten, fast vergangengen Kultur – aber man zeige mir bspw. mehr als 10 beliebige aktuelle Texte einer beliebigen Geisteswissenschaft, die den Test der oben genannten zwei Fragen durchgängig bestehen könnten! … aber vielleicht war es nie anders …?

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