Grundlagen der Plagiatsphrasenforschung, Teil 2: Das Plagiatsfabulat im Wissenschaftsrat

Nicht nur wegen der Person der Ministerin, sondern mehr noch wegen der beispiellosen Mobilmachung ihrer Hilfstruppen in Politik und Wissenschaft erscheint die Causa Schavan als der größte Skandal in der deutschen Wissenschaftsgeschichte der Nachkriegszeit. Die kampagnenhaften Versuche der Beeinflussung, denen das Verfahren der Düsseldorfer Fakultät von Anfang an ausgesetzt war, wurden in der Öffentlichkeit allerdings selten thematisiert.

Dann wurde jedoch überzogen. Am 18. Januar 2013 – wenige Tage, bevor in Düsseldorf über die Einleitung eines Verfahrens zum Entzug des Doktorgrades zu entscheiden war – wollte die Allianz der Wissenschaftsorganisationen in einer Erklärung den Eindruck erwecken, das Vorgehen der Düsseldorfer Fakultät sei zwar womöglich verfahrensrechtlich korrekt, genüge aber den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis nicht. [1] Dieser unverhohlene Einmischungsversuch rief umgehend heftige Proteste des Philosophischen Fakultätentags und des Deutschen Hochschulverbands hervor. [2, 3] Aber auch in der breiteren Öffentlichkeit hinterließ er einen ungünstigen Eindruck, wie Heike Schmoll feststellen musste:

Die Funktionäre wurden wegen ihrer zu einem unglücklichen Zeitpunkt veröffentlichten Erklärung weitgehend als korrupte Kaste wahrgenommen. Allzu durchschaubar erschien vielen das Manöver, sich liebedienerisch zur Verteidigung der Ministerin aufzuschwingen, von deren Geld man abhängig ist. [4]

Dabei war doch alles so harmlos und gut gemeint gewesen! Keinesfalls habe man gegenüber der Universität Düsseldorf auch nur das geringste Misstrauen zum Ausdruck bringen wollen, versicherte der Vorsitzende des Wissenschaftsrates, Wolfgang Marquardt:

Man habe nur daran erinnern wollen, dass sich ein Verfahren zur Aberkennung eines Doktorgrades nicht allein auf verwaltungsverfahrensrechtliche Gesichtspunkte beschränken dürfe. [5]

Doch „in der Wissenschaft übliche Verfahrenselemente“ wie die „Trennung von Begutachten, Bewerten und Entscheiden“, deren Beachtung von der Allianz eingefordert wurde, sind in der Wissenschaft keineswegs üblich, und in Promotionsverfahren schon gar nicht. Auch in den „unverändert“ maßgeblichen „einschlägigen Richtlinien der DFG“ findet sich davon nichts. [6] Dass diese „Richtlinien“, bei denen es sich tatsächlich nur um Empfehlungen handelt, für ein rechtsförmiges Verfahren ohnehin nicht „maßgeblich“ sein können, sei nur am Rande vermerkt.

Der Wahrhaftigkeitsgehalt der Erklärung, mit der die Allianz der Wissenschaftsorganisationen im Januar 2013 an die Öffentlichkeit ging, tendiert also gegen Null. Tags zuvor, am 17. Januar, hatte die Allianz bereits eine Erklärung zur Fortsetzung ihrer Schwerpunktinitiative „Digitale
Information“ herausgegeben. [7] Am 10. Februar 2013 folgte die nächste Erklärung: „Allianz der Wissenschaftsorganisationen würdigt Verdienste von Ministerin Schavan“. [8] Zu weiteren Verlautbarungen zum Wissenschaftsgeschehen hat sich die Allianz seither nicht mehr veranlasst gesehen.

absatz

In der „Allianz der Wissenschaftsorganisationen“ haben sich die großen Einrichtungen der Wissenschaftsförderung, die außeruniversitären Forschungsorganisationen, die Hochschulrektorenkonferenz mit einander verbunden – und der Wissenschaftsrat. Der ist allerdings keine Wissenschaftsorganisation, sondern ein Beratungsgremium der Politik in gemeinsamer Trägerschaft der Bundesregierung und der Landesregierungen. Man sollte sich dieses „Gremium“ nicht allzu fragil vorstellen: Ihm steht neben dem Vorsitzenden ein Generalsekretär im Rang eines Ministerialdirektors vor, seine Geschäftsstelle hält nicht weniger als 40 wissenschaftliche und etwa ebenso viele nichtwissenschaftliche Mitarbeiter dauerhaft in Lohn und Brot. Während die 32 Sitze in der „Wissenschaftskommission“ Wissenschaftlern und „Repräsentanten des öffentlichen Lebens“ (letztere werden auf gemeinsamen Vorschlag von Bund und Ländern berufen) vorbehalten sind, sitzen in der „Verwaltungskommission“ die Vertreter von Bund und Ländern. Hier liegt der Vorsitz bei Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, das mit noch einem weiteren Staatssekretär vertreten ist. In der allein entscheidungsbefugten Vollversammlung haben beide Kommissionen gleiche Stimmenzahl. [9]

Der Wissenschaftsrat ist also eine höchst politische Angelegenheit. Er steht wie kaum eine andere Einrichtung für die engen Verflechtungen zwischen Politik und Wissenschaft. Er ist ein Steuerungsinstrument auf höchster Ebene der Wissenschaftspolitik. Wenn der Wissenschaftsrat bald nach dem Rücktritt der Ministerin Schavan, in einer Zeit erbitterter Diskussionen über Standards und Verfahrensweisen bei der Überprüfung von Doktorarbeiten und über die Rolle der Whistleblower, eine Tagung über „Wissenschaft in der Verantwortung“ vorbereitete, hatte man sich dies kaum als unverbindlichen Austausch vorzustellen. Die Frage musste vielmehr lauten: Wohin soll hier gesteuert werden?

Da das Tagungsprogramm vorab nicht veröffentlicht wurde, war man auf Mutmaßungen angewiesen. Ominös musste erscheinen, dass sicherem Vernehmen nach Heike Schmoll durch diese Tagung führen sollte – ausgerechnet die FAZ-Redakteurin Schmoll, die in der Causa Schavan immer wieder einen regelrechten Furor zur Verteidigung der Ministerin entwickelt hatte. Ominös auch, dass die VroniPlag-Aktivistin Debora Weber-Wulff eingeladen war – allerdings nicht, um über die Plagiatsrecherche zu sprechen, wie von ihr vorab über Twitter zu erfahren war:

Das war seltsam: Zur Frage der „Verjährung“ bei Plagiaten hatte Weber-Wulff bis dahin keine erkennbaren Beiträge geliefert. Andererseits musste allein ihre Beteiligung an einer solchen Tagung schon als Politikum gelten.

Die Tagung „Wissenschaft in der Verantwortung. Gute wissenschaftliche Praxis und Qualitätssicherung in der Promotion“ fand dann am 23. Juli 2013 in den Räumen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften statt. Durch die Veranstaltung führte tatsächlich Heike Schmoll, und tatsächlich debattierte Debora Weber-Wulff darüber, wie „bei überführtem Fehlverhalten“ zu verfahren sei: „Unbegrenzte Titelrücknahme oder Verjährung?“ [10] Dass es sich hier nicht einfach um eine Debatte, sondern um ein Debate handelte, dürfen wir als überführtes Wohlverhalten vermerken. Sprachlich gesehen.

Hauptperson des Tages war allerdings Philipp Theisohn, der mit einer ambitionierten Literaturgeschichte des Plagiats und anderem mehr oder weniger Einschlägigem hervorgetreten ist. Während andere nur begrüßen, podiumsdiskutieren oder ein Debate führen durften, war es allein dem Literaturwissenschaftler von der ETH Zürich beschieden, einen Vortrag zu halten. Und er hielt.

„Fremde Worte, eigenes Denken“ ist sein Vortrag betitelt. Um „wissenschaftliche Normen im historischen Wandel“ soll es dabei gehen. Gleich zu Beginn hat der Redner „für Anregungen, Hinweise und fruchtbare Diskussionen, als deren Resultat sich die folgenden Ausführungen verstehen“, der IAG „Zitat und Paraphrase“ zu danken. Gleich zu Beginn ist auch anzukündigen, dass man im Folgenden endlich auf’s Wesentliche kommen werde. Bisher habe man sich in der Diskussion

in erster Linie und ganz vorrangig über die Normativität in der Verarbeitung wissenschaftlichen Fehlverhaltens unterhalten, d.h. darüber, welche Normen wir dabei gelten lassen wollen und welche nicht. Als Literaturwissenschaftler setzt man da natürlich immer das ein oder andere Fragezeichen; vor allem aber will man wissen, wie eigentlich so etwas wie Normativität auf einem derart komplexen Feld wie der wissenschaftlichen Textarbeit erzeugt werden kann. [11]

Der Überlegenheitsgestus des Literaturwissenschaftlers setzt sich natürlich immer auch gern in der einen oder anderen Herablassung gegenüber intellektuell weniger begünstigten Mitmenschen fort:

Einfacher gesprochen: Können wir wirklich davon ausgehen, dass es sichere Grenzen und feste Regeln gibt, mit deren Hilfe wir feststellen können, ob eine Doktorarbeit gegen wissenschaftliche Normen verstösst oder nicht? [11]

Davon können wir nicht ausgehen, denn Theisohn schickt sich nun an, uns die „Geschichtlichkeit“ wissenschaftlicher Normen auseinanderzusetzen:

„Geschichtlich“ sind diese keineswegs nur deswegen, weil sie irgendwie vergänglich sind, weil sie im Mittelalter in der heutigen Form nicht sichtbar waren und in einer komplett vernetzten Wissenschaftswelt womöglich wieder ganz andere sein werden. „Geschichtlich“ sind diese Normen vor allem deswegen, weil sie ganz eindeutig einem Wandel unterliegen, der mitunter ganz anderen Dingen folgt als offiziellen Beschlüssen und Wegweisungen von Hochschulgremien. [11]

Damit ist man dann auch schon – Theisohn dürfte noch keine fünf Minuten gesprochen haben – beim eigentlichen Verwendungszweck des Ganzen:

Ich wage sogar zu behaupten, dass die Vorstellung dessen, was als „wissenschaftliche Norm“ betrachtet wird und was nicht, in hohem Masse eine Mentalitätsfrage zu sein scheint, [11]

und das ist natürlich eine gewagte Behauptung, wenn man davon ausgeht, dass es in hohem Maße gleichgültig ist, ob etwas so ist oder vielleicht auch nur so zu sein scheint. Wobei dieser seienden oder scheinenden Mentalitätsfrage

in der gegenwärtigen Auseinandersetzung jedoch viel zu wenig Rechnung getragen wird. So nimmt man etwa das Faktum, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Fakultät ein Leitfaden zur „Anfertigung von Seminararbeiten“ erschienen ist, leichtfertig als Hinweis dafür, dass die Zitiernorm in dieser Fakultät zu dieser Zeit just den Normen entspricht, die wir heute dem „wissenschaftlichen Zitieren“ beimessen. [11]

In der gegenwärtigen Auseinandersetzung geht es also nach wie vor um die Doktorarbeit der früheren Ministerin Schavan aus dem Jahr 1980. Nicht die Promotionsordnung der Fakultät allein, auch nicht ein Leitfaden, der dort am Erziehungswissenschaftlichen Institut 1978 bereits in achter Auflage kursierte, können Hinweise auf damalige Zitiernormen geben. Es wäre leichtfertig, zum Beispiel aus den Seiten 19-23 dieses Leitfadens, auf denen die damaligen Zitiernormen konkret ausgeführt werden, etwa Hinweise auf die damaligen Zitiernormen ableiten zu wollen. Erstens vernachlässigt ein solcher Schluss, wie ihn der Düsseldorfer Fakultätsrat leichtfertig gezogen hat, die Mentalitätsfrage. Man darf wohl davon ausgehen, dass Annette Schavan damals zugleich mit ihrer Doktorarbeit eine eidesstattliche Versicherung des Inhalts eingereicht hat, dass die Bestimmungen der Promotionsordnung und die dort verlangte eidesstattliche Versicherung über die benutzten Hilfsmittel nicht ihrer Mentalität entsprachen. Zweitens scheitert die Ableitung irgendwelcher Hinweise aus einem Leitfaden von 1978 für uns Heutige an der „Geschichtlichkeit“:

Wird dort […] bei längeren gedanklichen Übernahmen kein „wörtliches“, sondern „ein sinngemäßes Zitat, das man in eigene Worte fassen muss“, gefordert, dann wird uns allenfalls der Duktus etwas stören, da wir ’sinngemässe Zitate‘ heute eigentlich nicht mehr kennen. Tatsächlich birgt die Formulierung aber genau jene Unschärfe, die sie historisch werden lässt: Was in der damaligen wissenschaftlichen Praxis eigentlich genau für ein Zitat gehalten wurde (und was eher nicht), wo eine Paraphrase beginnt und wo sie endet (ob sie z.B. ganz und gar eigenwörtlich sein muss und überhaupt keine Identitäten mit der paraphrasierten Quelle aufweisen darf) – diese Fragen berührt die veröffentlichte Norm nicht. Im Gegenteil: sie macht diese als offene Fragen ihrer Zeit vielmehr transparent. [11]

Ja, dieser altertümliche Duktus muss uns freilich stören, denn „sinngemäße Zitate“ kennen wir heute eigentlich nicht mehr. Woher sollen wir als Literaturwissenschaftler und Plagiatsexperte der ETH Zürich denn auch beispielsweise den 2007 erlassenen und bis heute geltenden „Zitier-Knigge“ der ETH Zürich kennen? Schon in der vierten Grundregel werden uns dort „sinngemäße Zitate (Paraphrase)“ vorgestellt als „Literaturstellen, die Sie in eigene Worte gefasst haben oder als Zusammenfassung wiedergeben“. Weiterer Erklärungsbedarf besteht vor Ort offenbar nicht. Ob die Paraphrase nun ganz und gar eigenwörtlich sein muss und überhaupt keine Identitäten mit der paraphrasierten Quelle aufweisen darf – diese etwas albernen Fragen berührt der aktuelle Zürcher Zitier-Knigge nicht. Im Gegenteil: Er macht diese als offene Fragen ihrer Zeit vielmehr transparent. Und unterscheidet sich hierin allenfalls insoweit vom Düsseldorfer Leitfaden von 1978, als letzterer ausführlicher und konkreter ist. Soviel zur „Geschichtlichkeit“.

Es folgt der mahnende Hinweis,

dass es uns an einer mentalitätsgeschichtlichen Aufarbeitung wissenschaftlicher Textverfahren ernsthaft mangelt und dass dieser Mangel vielleicht nie so sehr zutage getreten ist wie im Augenblick. [11]

Wenn wir Pech haben, schafft Theisohn dieser herben Entbehrung mit einer nächsten Monographie Abhilfe.

Augenblicklich aber ist er damit beschäftigt, „das Plagiat zwischen Indiz und Beweis“ zu betrachten. Da bedarf es zunächst einmal der kritischen Beleuchtung des Begriffs „Plagiat“:

Es hat seine Gründe, warum dieser Begriff und keine seiner Übersetzungen in irgendeiner Sprache ein Legalbegriff ist, denn es ist ein Begriff, der vielmehr verunklärt als er präzisieren kann. So wird er im gemeinen Sprachgebrauch objektivierend gebraucht: Jemand hat im Text einer anderen Person „Plagiate“ gefunden, der Text einer anderen Person ist ein Plagiat, so wie auch Mobiltelefone aus China Plagiate sind. Das ist natürlich falsch. [11]

Nein, ein „Legalbegriff“ ist „Plagiat“ tatsächlich nicht, jedenfalls nicht im deutschsprachigen Rechtsraum. Das heißt aber keineswegs, dass der Begriff in der Rechtssprache nicht gebraucht würde. In einschlägigen Gerichtsurteilen wird er vielmehr regelmäßig verwendet, in schöner Selbstverständlichkeit und offenbar ohne dass eine besondere, allen juristischen Erfordernissen entsprechende Definition für nötig gehalten würde. [121314]

Theisohn dagegen erklärt es für „natürlich falsch“, Plagiate überhaupt als etwas Gegebenes zu sehen, von ihnen so zu sprechen, als seien sie für sich genommen in der Welt:

Plagiate sind nämlich, wenn wir recht darüber nachdenken, keine Objekte. Was wir meinen, wenn wir behaupten, in einem Text fänden sich „Plagiate“, ist etwas anderes: wir reden von einer Handlung, die mit einem gewissen Mass an Unredlichkeit begangen wurde, von der ungekennzeichneten Übernahme des geistigen Eigentums anderer. [11]

Bei rechtem Nachdenken können wir nun zwar bestätigen: Auch bei unserem alten Nachbarn Zibulke gingen „Meinen“, „Behaupten“ und „Reden“ munter durcheinander, doch wenn er von Destillaten redete, dann meinte er unweigerlich die Schnapshandlung. Ansonsten aber würden wir doch nach wie vor gerne das Plagiieren für die Handlung und das Plagiat für deren Ergebnis halten dürfen.

Theisohn jedoch erkennt „eine gefährliche Verkürzung“, wenn wir sagen, dass es sich bei einem Text um ein Plagiat handle:

Wir unterstellen nämlich, dass sich das von uns veranschlagte täuschende Bewusstsein am Text ablesen lasse. Das ist ein Trugschluss, denn der räuberische Charakter seiner Herkunft liegt eben mitnichten im Text. Was wir tatsächlich sehen, wenn wir von „Plagiaten“ sprechen, das sind zwei Texte mit offensichtlichen Ähnlichkeiten, Parallelläufen, Wort-, Satz-, vielleicht sogar Absatzidentitäten. Zu einem Plagiat wird das Ganze erst, wenn wir diesen beiden Texten eine bestimmte Erzählung unterlegen: dass nämlich beim Entstehen des zweiten Textes der erste Text ganz bewusst ausgebeutet und ebenso bewusst verschwiegen wurde. Dann reden wir von einem Plagiat, das wir aber eben nur so nennen, weil wir einem Text ein bestimmtes Bewusstsein zuweisen, dessen Rekonstruktion dann Gutachterarbeit ist. [11]

Wir unterstellen unsererseits, dass der Literatur- nein: Kulturwissenschaftler Theisohn weder von der Art Textanalyse, die zur Identifikation von Plagiaten führt und deren Ergebnisse etwa auf schavanplag beispielhaft vorgeführt werden, noch von der regelmäßigen Rechtsprechung in Plagiatsangelegenheiten auch nur die geringste Ahnung hat. Wir unterstellen ferner, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, einen Text nicht für seinen Autor zu halten. Wir unterstellen weiterhin, dass Theisohn hier recht unverhüllt dem Düsseldorfer Gutachter unterstellt, dass er nur mit Unterstellungen gearbeitet hat.

Theisohn will es für schlechterdings unmöglich halten, anhand eines Textes die wissenschaftliche Unredlichkeit seines Urhebers zu beweisen:

Ebendiese Lücke zwischen Indiz und Beweis macht unsere Verhandlungen über „Plagiatsfälle“ an Universitäten so überaus kompliziert. [11]

Gar so kompliziert scheinen die Verhandlungen beispielsweise im Fall der Doris Fiala an der ETH Zürich zwar nicht gewesen zu sein. [15] Es ist auch nichts darüber verlautet, dass Philipp Theisohn seiner eigenen Hochschule großartig ins Gewissen geredet hätte wegen der gemeinen Rede von „Plagiaten in der Magisterarbeit“ oder wegen des Trugschlusses einer Erzählung vom Charakter im Text, die unmöglich zu beweisen ist. Vor dem Wissenschaftsrat geht es allerdings um „Plagiatsfälle“, die mittlerweile überhaupt nur noch zwischen Anführungszeichen gehören. So weit wären wir immerhin schon mal.

Sodann beobachtet Theisohn zwar allerlei Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten, kann aber

umgekehrt […] ebenso häufig verfolgen, wie auf Seiten der Anklage Indizien zu Beweisen werden, wie sich aus dem Fund von Analogstellen die Vorstellung eines „plagiarischen Bewusstseins“ auf den ganzen Text überträgt. Die Ikone, über die diese Suggestion läuft, kennen wir alle, es ist der sogenannte Konfrontationsabschnitt (Abb. 1), eine Sonderform der Synopse. [11]

Theisohn zeigt eine solche Ikone, über die diese Suggestion läuft:Es handelt sich um ein Fragment aus der VroniPlag-Dokumentation der Doktorarbeit von Jakob Kreidl. Wer die Arbeitsweise von VroniPlag kennt oder überhaupt etwas von dieser Art von Arbeit versteht, der weiß natürlich, dass dies nie und nimmer eine „Ikone“ ist. Eine solche Textsynopse ist nicht mehr und nicht weniger als ein notwendiges Vehikel. Sie offenbart nie schon in sich selbst die Ergebnisse der Untersuchung. Wie wenig Suggestion hier im Spiel ist, lässt sich leicht in den verästelten, alle denkbaren Plausibilitäten sorgsam abwägenden Diskussionen nachverfolgen, die um einzelne Fragmente aus dieser und vielen anderen untersuchten Dissertationen geführt worden sind. Theisohn aber hat ein Publikum vor sich, dem er ohne weiteres suggerieren kann, dass bei der Betrachtung solcher Ikonen nur primitivste Begriffe von „sauber“ und „betrügerisch“ zur Anwendung kommen. Mehr noch, es erfolgt eine Komplettsuggestion in drei atemberaubenden Schritten:

Ist die erste Suggestion des Konfrontationsabschnitts die prinzipielle Transparenz wissenschaftlicher Textarbeit, dann besteht seine zweite Suggestion in deren uneingeschränkter Transparenz. Jeder alphabetisierte Mensch […] kann hier angeblich erkennen, ob eine Arbeit wissenschaftlichen Normen entspricht oder nicht. Die dritte und letzte Suggestion des Konfrontationsabschnitts ist dann die Quantifizierbarkeit der Eigenständigkeit wissenschaftlicher Arbeiten: der Prozentbalken, an dem sich ausweisen lässt, in welchem Masse ein Text gegen die wissenschaftliche Redlichkeit verstösst. [11]

Auch das ist natürlich Blödsinn. Der Prozentbalken war vielleicht nicht die segensreichste Erfindung in der Geschichte von Guttenplag, VroniPlag etc., aber als unmittelbarer Maßstab einer quantifizierbaren Unredlichkeit wird er wohl nur von ganz besonders schlichten Gemütern gelesen. Freilich lässt sich aus solchem Blödsinn dann eine schön tiefschürfend bedenkliche Formulierung ableiten:

Das, was wir wissenschaftliche Normen nennen, hat zur Zeit ebendieses Gesicht: Wir vermessen Wörtlichkeit. [11]

Das tut gerade so, als wenn sämtliche Promotionsausschüsse und Fakultätsräte ständig mit dem Prozentbalken unter dem Arm durch die Gegend liefen. Da wäre dann freilich das Ende der Geisteswissenschaft nicht weit.

Etwas unvermittelt kommt Theisohn nun auf „die konkrete, historische Kommunikationssituation“ zu sprechen, „in der ein wissenschaftlicher
Text steht.“ Plötzlich ist es nämlich diese historische Kommunikationssituation, derentwegen man nicht einfach davon ausgehen kann,

dass die Wissenschaftsprache klar markierte Eigentumsgrenzen kennt und wörtliche Wiederholungen, die nicht als Zitat ausgewiesen sind, entsprechend einen Verstoss gegen die wissenschaftlichen Standards anzeigen. [11]

Für die Autoren nicht historischer Arbeiten unter Plagiatsverdacht wie z.B. Jakob Kreidl sind das zwar eher schlechte Nachrichten, denn in ihrem Fall ist es ja dann offenbar doch möglich, klare Eigentumsgrenzen zu benennen und Verstöße gegen die wissenschaftlichen Standards anzuzeigen. Doch bei solchen Kollateralschäden können wir uns nicht aufhalten. Es gilt, an zwei historischen Beispielen aufzuzeigen, „dass wörtliche Uneigenständigkeit keineswegs zwingend wissenschaftliche Uneigenständigkeit anzeigen muss […]“. Wir eilen also zunächst zu einem wahrhaft historischen Beispiel, zu Ernst Cassirer, können es aber bei der Wiedergabe des Kürzestreferats von Stefan Heßbrüggen bewenden lassen:

Cassirer würde heute als Plagiator abgeurteilt. Cassirer war ein großer Geist, kann also kein Plagiator gewesen sein. [16]

Das reicht hier vollkommen aus – denn eigentlich will all das doch nur auf das zweite Beispiel hinaus. Hier aber geht es – welch Zufall – um „Pädagogisches Schreiben um 1980“. Doch nein, Zufall ist es nicht, wenn Theisohn nun auf Annette Schavan, ihre erziehungswissenschaftliche Doktorarbeit und den rechten Umgang mit beiden zu sprechen kommt. Es ist vielmehr der wissenschaftlichen Selbstdisziplinierung geschuldet, wenn er dies tut. Denn viel lieber zwar würde er weiterhin von wahren Geistesriesen reden, doch

die These, dass das avisierte Publikum, vor welchem man jeweils seine Gesten der Zitation und Paraphrase vollführt, für das Verständnis und die Umsetzung wissenschaftlicher Normen in Texten von entscheidender Bedeutung ist, muss sich […] eben auch dort durchhalten lassen, wo der Weltgeist nicht eben zuhause ist. [11]

Ja, das Dasein als Kulturwissenschaftler kennt durchaus auch den zeitweiligen Aufenthalt in solchen  Niederungen, wo der Weltgeist nicht eben zuhause ist. Zwar ist momentan nicht ganz eindeutig, wie sich das mit dem Verständnis und der Umsetzung wissenschaftlicher Normen im Einzelnen verhält, wer da versteht und wer da umsetzt, aber allzu wichtig ist das wohl auch nicht. Das avisierte Publikum im Falle der Annette Schavan stellen wir uns jedenfalls ohne weitere Schwierigkeiten zunächst einmal in Gestalt der Mitglieder der seinerzeitigen Promotionskommission vor und sind nun gespannt darauf, was dies für die Vollführung von Gestikulation, Zitation und Hyperventilation bedeuten mag.

In der öffentlichen Debatte um die Doktorarbeit der Ministerin wurde einerseits auf besondere Verhältnisse der Pädagogik um 1980 verwiesen, andererseits auf die allgemeine Gültigkeit der immer gleichen wissenschaftlichen Normen. In dieser unklaren Lage wurde Theisohn zum Grundlagenforscher:

Ich habe mich aus Anlass unserer Tagung deswegen einmal der harten Prüfung unterzogen, wahllos 25 pädagogische Dissertationen aus dem Zeitraum der Jahre 1975-1982 stichprobenartig anzulesen. [11]

Das ist nun freilich eine harte Prüfung, wenn man die Nase aus jenen Schwarten heben muss, aus denen der Weltgeist eben weht, um wahllos 25 pädagogische Dissertationen stichprobenartig anzulesen. Andererseits ist es aber doch erfreulich, dass es noch Gelehrte gibt, denen ein wahlloses stichprobenartiges Anlesen von nicht näher bestimmbarer Intensität vollauf genügt, um zu recht weitreichenden Schlüssen zu kommen.

Auch die 25 wahllos angelesenen Dissertationen sind nicht näher bestimmbar. Von ihnen ist deshalb im Weiteren auch gar nicht mehr groß die Rede. Inzwischen geht es um die Frage, ob sich in diesen Texten „so etwas wie eine fach- und zeitspezifische ‚Mentalität des geistigen Eigentums'“ erkennen lässt. Nicht zur Untersuchung gehörig ist dagegen die Frage, ob sich in den Texten der jeweils gültigen Promotionsordnungen so etwas wie eine fach- und zeitspezifische Mentalität der akademischen Prüfung erkennen lässt. „Was konnte ich also dort erkennen?“ fragt Theisohn sein avisiertes Publikum, in dessen Reihen sich gewisse freudige Ahnungen breit machen. Und tatsächlich, der Befund ist nach wahllosem Anlesen auffällig:

Erstens gibt es „ganz zweifelsfrei und grundsätzlich“ unter diesen pädagogischen Doktorarbeiten solche mit historischem, empirischem und theoretischem Ansatz. Es ist unbedingt zu begrüßen, dass dies nun ganz zweifelsfrei und grundsätzlich durch wahlloses stichprobenartiges Anlesen festgestellt werden konnte. Insbesondere die theoretisch ausgerichteten Arbeiten hinterließen „einen recht auffälligen Gesamteindruck“: Sie fußen sehr weitgehend auf den Theorien und Erkenntnissen anderer Disziplinen.

Ich spreche hier nicht von den zu erwartenden Forschungsberichten, sondern von Arbeiten, die ein theoretisches pädagogisches Problem wirklich in erheblichem Umfang über das Referieren der Positionen anderer lösen. Dass dem so ist, wird weder verschleiert noch als problematisch empfunden, sondern scheint normal. [11]

Ja – und? Was hat dies mit der Plagiatsdiskussion zu tun?

Mir lag eine Arbeit vor, in der – ohne dass dies aus dem Titel irgendwie ersichtlich war – von 240 Seiten recht unvermittelt 130 dem Referat zweier Vertreter psychologischer Handlungstheorien gewidmet waren, weitere 80 dann der vergleichenden Systematisierung dieser Theorien. [11]

Ja? Das mag als selbständige wissenschaftliche Leistung zwar irgendwie suboptimal erscheinen, gibt uns aber keinerlei Aufschluss über die Gestik von Zitat und Paraphrase vor so oder anders avisiertem Publikum. Auch die Feststellung, dass es in solchen Arbeiten vielfach zur „Nivellierung der Quellen“ kommt, dass den Autoren also Platon, Freud, Luhmann oder Heidegger gleich viel gelten wie der „Aufsatz eines Fachkollegen“, Sekundärliteratur gleich viel wie Primärliteratur, führt vom angeblichen Thema ab. Auch eine Dissertation, die ein Kapitel über Darwin enthält, ohne diesen selbst zu zitieren, taugt als Beleg für gar nichts, solange Theisohn nicht etwa darlegt, dass hier eine Darwin-Lektüre vorgegaukelt werde – und dass das avisierte Publikum gar nichts anderes erwartet und gewünscht habe. Und es ist zwar schade und zeugt nicht gerade von begnadeter Beherrschung des wissenschaftlichen Handwerks, wenn ein Unterkapitel zu Auguste Comte „massgeblich über das Fischer Lexikon Philosophie oder ein Funkkolleg wiedergegeben wird“ – doch mit der Plagiatsdiskussion besteht auch in diesem Fall kein erkennbarer Zusammenhang. Im übrigen darf man es vielleicht auch für denkbar halten, dass ein solcher „Gestus der Zitation“ beim primär avisierten Publikum dieser Doktorarbeit, der Prüfungskommission, nicht den besten Eindruck hinterlassen hat.

Am nächsten kommt Theisohn einem Beleg für die bahnbrechende Erkenntnis, dass es um 1980 tatsächlich nicht nur bei Annette Schavan, sondern auch in anderen erziehungswissenschaftlichen Doktorarbeiten zu Unsauberkeiten gekommen sei, wenn er den „gedoppelten Platon“ vorführt: Da

findet sich ein Unterkapitel zum sokratischen Denken, das in einer ersten Anmerkung Platons Apologie nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie (ohne Band- und Seitenangabe) zitiert, um dann im weiteren angeblich aus einer bestimmten Ausgabe der Apologie direkt zu zitieren. [11]

Das mag man für weltbewegend halten, hat mit einem „Gestus“ vor avisiertem Publikum aber doch wohl weniger zu tun als mit Schlamperei und Unfähigkeit. Da wir jedoch gerade erst von Theisohn lernen durften, dass von Plagiaten nur in gemeinem Sprachgebrauch zu reden ist, indem Texten eine bestimmte Erzählung unterlegt wird, wollen wir uns vor solcher Gemeinheit auch bei Fußnoten und Zitiertechniken hüten und sagen: Es wird wohl so sein! Warum soll der Autor denn nicht auch mal hier, mal dort genascht haben?

Damit, behauptet nun Theisohn, sei man

bereits bei dem vielleicht entscheidenden Thema angelangt: Wo beginnen in diesen Arbeiten Paraphrasen und was versteht man darunter? Wie extensiv und wie kursorisch wird zitiert? [11]

Dafür, dass dies nun das vielleicht entscheidende Thema sein soll, behandelt es Theisohn dann allerdings sehr nonchalant. Er beschränkt sich darauf, ganz pauschal „verschiedene Umgangsformen mit geistigem Eigentum“ zu nennen, „von denen uns die meisten heute seltsam anmuten:“ Man kann „gleich alles“ zitieren, oder man zitiert „sehr wenig, zumindest deutlich weniger als heute“, was übrigens „über die Pädagogik hinausgeht“, oder aber man wählt den

Mittelweg: Man bekennt sich offenherzig zu Paraphrase und operiert mit Abstellformeln, z.B. mit Fussnoten, in denen steht: „Ich halte mich bei diesen Ausführungen wesentlich an die Aufzeichnungen von“ (Abb. 6). Wie weit „diese Ausführungen“ reichen (die Quelle taucht dann auf den nächsten zwanzig Seiten immer wieder einmal auf) und wie „wesentlich“ die Paraphrase ist, wird nicht gesagt. [11]

Welche Aufschlüsse diese aus 25 wahllos angelesenen Doktorarbeiten geschöpfte Typologie ergeben soll, bleibt nebulös. Einzig der „Mittelweg“ wird näher beschrieben und durch ein Beispiel illustriert. Die gezeigte Abbildung allerdings verdient Aufmerksamkeit. Beim avisierten Publikum mag der Gestus der Präsentation an dieser Stelle jedenfalls Wirkung gezeigt haben: In der Diskussion der Plagiatsvorwürfe war immer wieder ausgerechnet dieses Werk, Ernst Stadters „Psychoanalyse und Gewissen“, (fälschlich) als das einzige genannt worden, das Annette Schavan passagenweise übernommen, aber weder in den Fußnoten noch im Literaturverzeichnis aufgeführt habe. Sollte sie ihn nun etwa doch, wenn auch nur pauschal, zitiert haben?

Sie sollte nicht, doch das Publikum im Wissenschaftsrat konnte das nicht wissen. Ebenso wenig wie es wissen konnte, wieviele der 25 Doktorarbeiten welche Merkmale in welcher Deutlichkeit zeigten und inwieweit sie sich darin von 25 wahllos angelesenen Doktorarbeiten aus anderen Fachgebieten, Jahrzehnten oder Weltgegenden unterschieden. Und schon gar nicht konnte das Publikum wissen, was all dies für die Plagiatsvorwürfe gegen die frühere Ministerin besagen wollte oder wie es sich zu der Untersuchung verhielt, die von der Fakultät in Düsseldorf geführt worden war.

Es folgen noch ein paar Mutmaßungen. So besteht eine „recht auffällige Korrelation zwischen Anmerkungstechnik und Zitierhäufigkeit“, wobei in „Arbeiten, die nur mit Klammerangabe im Fliesstext arbeiten“, der Verweis „vgl.“ „sich oft an Sätze ohne wörtliche Zitate anschliesst, also ganz offensichtlich eine Paraphrase kennzeichnen soll“. Hier wagt der Forscher die „Vermutung“, dass ein Autorname im Fließtext in solchem Fall „als Marker der Uneigenständigkeit wahrgenommen“ werde. Man hätte freilich auch im aktuellen Zitier-Knigge der ETH Zürich nachlesen und sich sagen lassen können:

Sinngemässe Zitate (Paraphrase): Setzen Sie bei Literaturstellen, die Sie in eigene Worte gefasst haben oder als Zusammenfassung wiedergeben, die Quelle in Klammern.

Oder aber, wegen der „Geschichtlichkeit“, wahllos eine von 25 alten Anleitungen anlesen. „Wissenschaftliches Arbeiten“ von Gundolf Seidenspinner zum Beispiel, erstmals 1970 erschienen:

Sofern man von einem Autor nur Gedanken übernimmt oder sich an dessen Ausführungen anlehnt, liegt nur ein sinngemäßes oder indirektes Zitat vor. Der Umfang einer solchen sinngemäßen Übernahme muß eindeutig erkennbar sein. Am Ende einer solchen Passage wird eine Fußnote angebracht; in der Fußnote wird der Autor zitiert, nach dem der entsprechende Passus dargestellt wurde. Eine solche Fußnote leitet man ein mit: „Vgl.“ [=“Vergleiche“]

Das ist nun freilich nicht die Klammer-Technik, aber vielleicht kann man Herrn Theisohn ja bei der Gelegenheit auch gleich noch den kategorialen Unterschied zwischen Regeln und Konventionen beibringen. Dem übrigens in der Plagiatsdiskussion eine sehr erhebliche Bedeutung zukommt.

Nun fragt Theisohn, „was man mit solchen Entdeckungen anfangen soll.“ Er redet da tatsächlich von „Entdeckungen“. Welche Rückschlüsse lassen sie zu? Verblüffende Rückschlüsse:

1. Das von mir gewählte Pädagogik-Beispiel zeigt vielleicht gerade besonders deutlich, dass die Einschätzung dessen, was als zitierpflichtig erachtet wird und was nicht, sehr stark vom fachlichen Standpunkt abhängig ist. [11]

Vielleicht, vielleicht auch nicht – um das beurteilen zu können, müssten wir zunächst einmal wissen, welches „gewählte Pädagogik-Beispiel“ hier gemeint sein soll. Die nicht näher genannten, nicht näher beschriebenen 25 wahllos angelesenen Dissertationen insgesamt? Oder welche dieser nicht näher beschriebenen Dissertationen, an denen Theisohn nichts von Erheblichkeit zeigen konnte, im Einzelnen? Und von welchem fachlichen Standpunkt war jetzt bitte was abhängig? Was wurde eigentlich unterdessen aus dem guten alten avisierten Publikum? Und aus der Zirkulationsgestikulation in der historischen Kommunikationssituation?

Es würde uns mittlerweile ja auch völlig reichen, wenn Theisohn an irgend einem Pädagogik-Beispiel überhaupt irgend etwas zeigen und nicht nur allerlei behaupten würde. Es müsste noch nicht mal besonders deutlich sein. Stattdessen reitet Theisohn weiter darauf herum, dass unter den ganz spezifischen historisch-kommunikativen Bedingungen bestimmter gestikulierender Fachkulturen vor avisiertem Publikum doch wahrhaftig

die Tradierung von „Sekundärzitaten“, deren originären Zusammenhang nur noch wenige kennen, zur im Fach akzeptierten Norm wird. [11]

An dieser Stelle möchten wir dem Expertenteam der IAG „Zitat und Paraphrase“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften dringend die Erweiterung durch Kurt Biedenkopf anempfehlen, der mit seiner hellsichtigen Analyse früh schon zum Kern der Sache vorgedrungen ist:

Frau Schavan hat nicht geschummelt, sie hat auch Sekundärliteratur verwendet. Das hat ihr Doktorvater gebilligt. Ihre Arbeit hat er als korrekt und regelgerecht bezeichnet. [17]

Zum Abschluss gönnen wir uns noch ein wenig Wohlklang über die „kulturwissenschaftliche Wende“ in den Geisteswissenschaften, über Gespräche mit Naturwissenschaftlern, aus denen man schließen darf, dass der Aspekt der Wörtlichkeit dort gar keine Rolle spielt. Überhaupt zeige die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Texten – eine weitere harte Prüfung, der sich Theisohn offenbar ausgesetzt hat – ,

dass der Begriff der „Information“ von entscheidender Bedeutung für die historische Beurteilung wissenschaftlicher Normen sein wird. Als Information wird das Wissen nämlich seinem Ursprungsort entkoppelt und frei gesetzt. Der Prozess, wie aus Forschungsresultaten Informationen werden, die ab einem gewissen Zeitpunkt ohne ihren Entdecker auskommen müssen, ist noch unerforscht. [11]

Es bleibt also spannend. Wir aber wollen den kleinen Forschungsresultaten einstweilen zurufen: Bleibt tapfer, Ihr werdet schon zurechtkommen!

Etwas Geraune noch über „etliche Grauzonen, an die wir mit blossen
Quelle-Text-Abgleichen gar nicht herankommen“, und über die „Mentalitätsgeschichte der wissenschaftlichen Normen“, der wir uns nicht verschliessen dürfen. Die Normen könnten uns das sonst am Ende noch übelnehmen.

Und damit ist nun diese Sophisterei tatsächlich an ihr Ende gekommen. Es war ein großartiger Vortrag des allseits als brillant gepriesenen Daniel Düsenschrieb aus der schweizerischen Denkfabrik. Der endgültigen Rehabilitation der Annette Schavan und ihrer Rückführung ins Ministeramt dürfte angesichts der präsentierten Erkenntnisse nichts mehr im Wege stehen. Die Feinarbeit bleibt der IAG „Zitat und Paraphrase“ im Zusammenwirken mit dem Wissenschaftsrat überlassen. Wir aber grübeln wieder einmal darüber nach, warum bei solchen Erscheinungen die bereitwillige Anbetung durch ganze akademische Festspielsäle regelmäßig zuverlässig vorausgesetzt werden kann, während etwa ein so vollendet witziger Wutanfall, wie ihn Joachim Schlör angesichts von Theisohns unverbindlicher Tiefgründigkeitssimulation erleidet, eine seltene Ausnahme bleibt.

Wir nehmen mal all unseren Wagemut zusammen und behaupten, dass die Vorstellung dessen, was als “wissenschaftlicher Vortrag” betrachtet wird und was nicht, in hohem Maße eine Mentalitätsfrage zu sein scheint. Oder aber eine Frage der praktischen Nutzbarkeit.

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13 Antworten zu “Grundlagen der Plagiatsphrasenforschung, Teil 2: Das Plagiatsfabulat im Wissenschaftsrat

  1. Danke für diesen rasanten Verriss dieses Schwätzers Philipp Theisohn. Übrigens ist zu beachten, dass der Vortrag auf das Programm gesetzt wurde, um im Wissenschaftsrat erste Ergebnisse aus dem Projekt „Zitat und Paraphrase“ vorzustellen. Die Tagung fand ja sinnigerweise auch in der BBAW statt, die dieses Projekt aufgelegt hat. Der Wissenschaftsrat hat mit diesem Tagungsprogramm das Markschies-Braungart-Schavan-Projekt also gewissermaßen nochmal offiziell geadelt.

    Typisch für die Wirkung von solchen „Überfliegern“ wie Theisohn ist, dass sie um so glänzender gefunden werden, je weniger man gerade von der Sache versteht. Als Politikwissenschaftler kann ich sein Geflitter faszinierend und anregend finden, solange er bloß nicht auf das Gebiet der Politikwissenschaft kommt. Da falle ich dann plötzlich aus allen Wolken über den empörenden Blödsinn, den er da zusammenredet. Plötzlich finde ich das alles dann auch sehr überheblich. Sobald er die Politikwissenschaft wieder verlassen hat, ist aber wieder alles in Ordnung. Da finde ich ihn dann gerne wieder faszinierend und anregend, denn mir kann ja gleich sein, ob da wirklich was dahintersteckt.

    Sehr schön kann man das z.B. nachvollziehen an der Rezension, die Gordian Ezazi zu Theisons Essay „Literarisches Eigentum“ geschrieben hat. Hier: http://www.regierungsforschung.de/data/300812_regierungsforschung.de_ezazi_rezension_theisohn.pdf

    Danke und weiter so.

  2. Zebraschabrackenzackenbarsch

    Den Theisohn-Vortrag kann man ja auch als Audio hören, da gibts dann auch die Diskussion dazu. Und ich trau meinen Ohren nicht. Was für eine seltsame Rolle spielt eigentlich Frau Weber-Wulff aka WiseWoman in diesem seltsamen Spiel? Man sieht förmlich wie ihr Heike Schmoll nach der Wortmeldung über den Kopf streicht: Brav gemacht.

  3. Wo ist denn bitte die Schlör-Rezension erschienen?

    Zu den größten Gags gehört es, dass Theisohn sich in Performativanz (oder Performavitanz, weiß nicht mehr genau) und Gestikulationssituation voll den Erwartungen des avisierten Publikums beugt, mithin Wissenschaftlichkeit simuliert. Und dann nennt er nichtmal die Quellen, auf die er sich in seiner Analyse stützen will! Von wem ist sie denn, die Stadter-Fußnote? Man weiß es nicht, denn Nachprüfbarkeit ist eine rein mentalitätsbedingte Wissenschaftsnorm.

    Damit macht er sich doch über das Wissenschaftsestablishment lustig, oder?

    • Die Theisohn-Rezension von Joachim Schlör ist erschienen in

      Pardes. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e.V., 12 (2006), S. 155-157

      • Ach, und ich dachte, Theisohns Dissertationsthema „Zionismus und Literatur“ müsste doch zumindest dem avisierten Fachpublikum aus dem Feld der Jüdischen Studien verständlich sein! Daher hatte ich bei der Rezension vermutet, dass sie aus einem ganz davon abgelegenen Gebiet stammen müsste, Semiotik, Politologie oder Jura.
        Danke für die Aufklärung, dass Theisohn offenbar auch seine eigenen „Jüdischen Studien“ betreibt!

        Dem Rezensenten hätte mit seiner Frage nach der Bedeutung des Wortes „Urbarkeit“ ja auch mal jemand abhelfen können: Urbarkeit ist natürlich die Einschreibepflicht der Gült des Grundholden in das Rödel. Mit anderen Worten: die Technik, mit der sich die zionistische Literatur die Pacht Palästinas erschreibt.

      • In dieser Liste ist die wichtige Rezension wohl durch die Lappen gegangen: http://www.lit.ethz.ch/people/theisohp/Publikordner

  4. Da fällt mir spontan doch Harry Frankfurt ein … http://en.wikipedia.org/wiki/On_Bullshit

    Gleichwohl scheint hierbei nur die eine Hälfte zuzutreffen: dass der Gastredner Falsches sagt. Aber wenigstens kann sich das Publikum an der heißen Luft erwärmen.

  5. Mirko Zimmermann

    „Tatsächlich birgt die Formulierung aber genau jene Unschärfe, die sie historisch werden lässt.“
    (Theisohn)

    „Tatsächlich birgt der Vortrag aber genau jene Unschärfe, die ihn nützlich werden lässt.“
    (Wissenschaftsrat)

  6. Pingback: Pyrrhonismus in der Plagiatsdebatte | Erbloggtes

  7. Eitelkeit, Ruhm-, Ehr- und Prahlsucht veranlassen uns, hier einen Kommentar in vollem Wortlaut zu zitieren, und nicht etwa nur zu paraphrasieren, den Dr. Bernd Dammann im Blog Archivalia hinterlassen hat:

    „Ironie, Satire, Polemik – überzeugender geht’s kaum. Die Verfasserin Simone G. liefert eine blendend recherchierte und materialreich unterfütterte Abrechnung mit dem ‚Schavanisten‘ Ph. Theisohn. Seine ‚Sophistereien‘ und Rabulistik werden ironisch, satirisch und polemisch überzeugend als rhetorisch hohles Blendwerk enttarnt und als heisse Luft gebrandmarkt. Wie die Autorin den Zürcher Kulturwissenschaftler über einen aktuellen hauseigenen Plagiatsfall und den ‚Zitier-Knigge‘ der ETH Zürich stolpern lässt und argumentativ zu Fall bringt, ist ganz großes Kino.“

    Danke, danke. Das wäre doch nicht nötig gewesen …

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